Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre
17. Oktober 1865 bis 10. August 1867

[127] Meine Zukunft liegt mir sehr im Dunkel, ohne mich deshalb besorgt zu machen. Gleichermaßen verhalte ich mich zu meiner Vergangenheit; im ganzen vergesse ich sie sehr schnell, und nur die Änderungen und Befestigungen des Charakters zeigen mir von Zeit zu Zeit, daß ich sie verlebt habe. Bei einer solchen Lebensweise wird man von seinem eignen Bildungsgange überrascht, ohne ihn zu verstehen; und ich verkenne nicht, daß dies Vorzüge hat, da das fortwährende Betrachten und Abwägen die naiven Äußerungen des Charakters zu stören pflegt und seinem Wachstum leicht hinderlich erscheint. Mitunter freilich will mir's vorkommen, als ob ein solches bewußtes Fortleben eben nur scheinbar und auch nur auf eine Zeit störend wirkt. Man denke an den Fußsoldaten, der zuerst fürchtet das Gehen überhaupt zu verlernen, wenn er angeleitet wird mit Bewußtsein den Fuß zu heben und dabei seine Fehler im Auge zu behalten. Es kommt nur darauf an, ihm eine zweite Natur anzubilden; dann geht er ebenso frei als vorher. Es ist sehr leicht die Moral zu dieser Fabel zu finden und die nachfolgenden Blätter sollen zeigen, daß ich sie gefunden habe. Betrachten will ich mich, und um nicht gleich mit einem unvermittelten »heute« anfangen zu müssen, schicke ich etwas über den Gang der[127] beiden letzten Jahre voraus. Zwei Jahre! In diesem Alter! Was saugt da nicht alles an dem jungen Wesen, was drückt da nicht seine Tatzen in den weichen Ton!

Ich ging von Bonn weg wie ein Flüchtling. Als mich um Mitternacht Freund Mushacke an das Ufer des Rheins begleitete, wo wir auf das von Köln kommende Dampfschiff warteten, da war nichts von wehmütigen Empfindungen in mir, einen so schönen Ort und ein so blühendes Land verlassen zu müssen, abzuscheiden von einer Schar jugendlicher Genossen. Vielmehr waren es gerade die letzteren, die mich fortscheuchten. Ich will nachträglich den guten Leuten nicht noch ungerecht sein, wie ich es früher öfter war. Aber meine Natur fand unter ihnen kein Genüge; ich selbst war noch viel zu scheu in mich versteckt und hatte nicht die Kraft, unter dem dortigen Treiben eine Rolle zu spielen. Alles war mir aufgenötigt, und ich verstand nicht Herr zu sein über das, was mich umgab. In der ersten Zeit war mein Bemühen gewesen, mich in die Formen zu finden und das zu werden, was man einen flotten Studenten nennt. Da mir dies aber immer mehr mißlang, da der Hauch von Poesie, der auf allem diesen Treiben zu ruhen scheint, für mich verflogen war und die rohe philiströse Gesinnung mitten aus jenem Übermaß von Trinken, Lärmen und Schuldenmachen hervorsprang, da begann es leise in mir zu rumoren; immer lieber entzog ich mich jenen hohlen Vergnügungen, um stille Naturgenüsse oder gemeinsame Kunststudien aufzusuchen, immer fremder fühlte ich mich in diesen Kreisen, denen zu entgehen doch nicht möglich war. Dazu meldeten sich andauernde rheumatische Schmerzen, nicht minder drückte das Gefühl, nichts für die Wissenschaft und wenig fürs Leben, doch reichliche Schulden gewonnen zu haben. Das alles gab mir die Empfindung eines Flüchtlings, als ich in der feuchten regnerischen Nacht an Bord des Dampfschiffes stand und die wenigen Lichter langsam verschwinden sah, die Bonn am Ufer bezeichneten.


Unter den Nachwirkungen dieser Stimmung verbrachte ich die Ferien. Die letzten vierzehn Tage war mir vergönnt, bei meinem Freunde Mushacke in dessen elterlichem Hause zuzubringen. In Berlin spielte ich damals das Spiel des Unzufriedenen; noch zu deutlich lag[128] die Vergangenheit in meinen Blicken, ihre Lasten drückten noch zu schwer auf meine Schultern, so daß ich meinem Freunde in meinen ewigen Lamentationen gewiß lästig fiel. Natürlich verfehlte ich nicht, jenes Unbehagen über Bonner studentische Verhältnisse zu verallgemeinern und insbesondere die deutsche Burschenschaft schwer mitzunehmen. Daß ich nun gerade mit Leuten dieser Rasse in einem Liebigschen Konzert zusammentreffen mußte, war mir hochpeinlich; und ich war unartig genug nach der nötigen Begrüßung einen ganzen Abend lautlos an ihrer Seite zu sitzen. Als trotzdem einer von ihnen seiner Pflicht nach mich in ihre Kneipe einlud, ging ich meinem Freunde Mushacke zulieb auch dorthin, blieb aber ebenso stumm und unzugänglich als bei der ersten Begegnung, und mag also schwerlich vorteilhafte Begriffe über meine Begabung und Lebensart erweckt haben, zumal da ich wenig Bier trank und gar nicht rauchte. – Berlin selbst unbefangen anzusehn und zu würdigen, war ich damals gewiß nicht angetan, dagegen stimmt es zu dem damaligen unruhig unbefriedigten Zustand, daß Sanssouci und die Umgebung Potsdams in dem malerischen Kostüm des Frühherbstes mächtig auf mich wirkte. Insgleichen ist mir noch der Garten am Viktoriatheater in der schärfsten Erinnerung, ohne alles Grün, die Bäume wie Rattenschwänze, die Bänke und Stühle unordentlich übereinandergestellt: über die Giebel der umgebenden Häuser die matten Strahlen der Herbstsonne und die bleiche blaue Luft, in die die Dächer so schroff hineinragen. Auch unsre Unterhaltungen nährten meine verbitterte Laune; da waren es die Sarkasmen des vortrefflichen Mushacke, seine Einblicke in die höhere Schulverwaltung, sein Zorn über das jüdische Berlin, seine Erinnerungen aus der Zeit der Junghegelianer, kurz die ganze pessimistische Atmosphäre eines Mannes, der viel hinter die Kulissen geschaut hat, die meiner Stimmung neue Zufuhr gaben. Ich lernte damals mit Behagen schwarz sehen, nachdem es mir selber, wider meine Schuld wie mir schien, schwarz gegangen war.


Es war am 17. Oktober 1865, als ich mit Freund Mushacke in Leipzig auf dem Berliner Bahnhofe anlangte. Wir zogen zunächst planlos in die innre Stadt und erfreuten uns der hochgetürmten Häuser, der belebten Gassen und des regen Treibens. Dann ruhten wir uns in der[129] Mittagszeit in der Reisseschen Restauration (Klostergasse) aus und fanden es hier leidlich, obwohl auch dieser Dunstkreis nicht frei von schwarzrotgoldnen Jünglingen war. Hier begann mein Studium des Tageblattes, das ich später regelmäßig in der Mittagsstunde zu treiben pflegte. An jenem Tage notierten wir uns die angebotenen Wohnungen, jene »anständigen« oder gar »eleganten« Zimmer mit »Schlafkabinett« usw. Darauf schickten wir uns an straßauf, straßab, treppauf, treppab uns die bezeichneten Herrlichkeiten anzuschaun und fanden sie durchschnittlich über alle Maßen scheußlich. Welche Gerüche empfingen uns da, welche Ansprüche von Reinlichkeit setzte man bei uns voraus! Genug, wir waren bald ärgerlich und mißtrauisch und folgten daher nur zaudernd einem Antiquar, der eine Wohnung zu vermieten hatte, wie sie uns passend erscheinen würde. Schon dauerte uns der Weg zu lang und wir wurden müde, als er in einer kleinen Seitengasse, die den Namen »Blumengasse« trägt, haltmachte, uns durch ein Haus durch in einen Garten führte und in dem dort sich anschließenden Gebäude eine kleine Stube nebst Kammer aufwies, die einen freundlich zurückgezogenen Eindruck machte und sich für die Behausung eines Gelehrten wohl eignen mochte. Genug, wir wurden handelseinig; ich wohnte von jetzt ab bei dem Antiquar Rohn in der Blumengasse Nr. 4. Freund Mushacke fand im Hause nebenan ein Unterkommen. Und zwar hatte ich, wie wir später häufig bemerkten, bei dieser Wohnungswahl den bessern Teil erwählt. An jenem Tage aber gingen wir nach Beendigung unsrer Geschäfte in das benachbarte Café und tranken da in herbstlich schauriger Luft, aber doch noch im Freien unsere Nachmittagsschokolade, mit wartendem Herzen über alles das, was sich an der neuen Stätte unsres Daseins zutragen würde.

Am andern Tage meldete ich mich auf dem Universitätsgericht; es war gerade ein Tag, den die Universität durch eine Festschrift und durch Doktorernennungen feierte, der Tag, an dem vor hundert Jahren Goethe sich in das Album eingezeichnet hatte. Ich kann nicht sagen, wie erfrischend dieses zufällige Ereignis auf mich wirkte; sicherlich war es ein gutes Omen für meine Leipziger Jahre, und die Zukunft hat dafür gesorgt, daß es mit Recht ein gutes Omen heißen konnte. Der damalige Rektor Kahnis suchte uns Gemeinsamaufzunehmenden,[130] die wir einen großen Kreis bildeten, deutlich zu machen, daß ein Genie seine absonderlichen Bahnen gehe und daß Goethes Studienzeit somit durchaus für uns nicht mustergültig sein solle. Wir erwiderten die Anrede des kugelrunden beweglichen Männchens mit einem verstohlenen Lächeln und reichten ihm darauf den üblichen Handschlag, indem sich der ganze Kreis an dem schwarzen Punkte vorbeischob. Später empfingen wir unsre Papiere.

Das erste fröhliche Ereignis war für mich das erste Auftreten Ritschls, der glücklich an seiner neuen Küste gelandet war. Nach akademischer Sitte war er jetzt genötigt, seine Antrittsvorlesung öffentlich in der Aula zu halten. Man war allgemein hochgespannt auf die Erscheinung des berühmten Mannes, dessen Benehmen in den Bonner Affären seinen Namen in die Zeitungen und in aller Mund gebracht hatte. In reichster Fülle war darum die akademische Bürgerschaft versammelt, aber auch zahlreiche Nichtstudenten standen im Hintergrunde. Da kam er denn hineingerutscht in den Saal, auf seinen großen Filzschuhen, im übrigen in tadellosem festlichem Anzug mit weißer Binde. Heiter und aufgeräumt blickte er sich in dieser neuen Welt um und bald entdeckte er auch Gesichter, die ihm nicht fremd waren. Indem er sich hinten im Saale herumtrieb, rief er plötzlich »Ei, da ist ja auch Herr Nietzsche« und winkte mir lebhaft mit der Hand. Bald hatte er einen ganzen Kreis von Bonner Schülern um sich gesammelt, mit denen er auf das gefälligste plauderte, während der Saal sich mehr und mehr füllte und die akademischen Würdenträger erschienen waren. Da er dies merkte, stieg er mit Heiterkeit und Unbefangenheit auf das Katheder und sprach seine schöne lateinische Rede über den Wert und Nutzen der Philologie. Sein freier Blick, die energische Jugend seines Worts, das behende Feuer in seinem Mienenspiel rief offenbar Staunen hervor. Ich hörte, wie ein alter gemütlicher Sachse nachher sich aussprach: »Nee, was der alte Mann fir ein Feier hat.« Auch in der ersten Vorlesung im Auditorium N. 1 war die Menschenmenge erdrückend. Er begann seinen Vortrag über des Äschylus Tragödie »Die Sieben vor Theben«, dessen wichtigsten Teil ich mit angehört und nachgeschrieben habe.
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Hier will ich gleich eine Bemerkung über meinen Kollegienbesuch machen. Da spricht denn vor allem die Tatsache, daß ich kein einziges vollständiges Kollegienheft besitze, sondern nur traurige Bruchstücke. Für diese meine Unregelmäßigkeit empfand ich zeitweise Besorgnis und Unruhe, endlich aber ging mir auch hier die erlösende Formel auf. Im Grunde nämlich zog mich bei den meisten Kollegien der Stoff durchaus nicht an, sondern nur die Form, in der der akademische Lehrer seine Weisheit an den Mann brachte. Die Methode war's, für die ich lebhafte Teilnahme hatte; sah ich doch, wie wenig auf Universitäten Stoffliches gelernt wird und wie trotzdem der Wert derartiger Studien allseitig aufs höchste geschätzt wird. Da wurde mir deutlich, daß das Vorbildliche der Methode, der Behandlungsart eines Textes usw., jener Punkt sei, von dem die umschaffende Wirkung ausgehe. Also beschränkte ich mich darauf zu beachten, wie man lehrt, wie man die Methode einer Wissenschaft in junge Seelen überträgt. Immer versetzte ich mich in die Stellung eines akademischen Lehrers und gab von diesem Standpunkte aus meine Zustimmung oder mein Verdikt zu den Bemühungen bekannter Dozenten. So habe ich mich denn mehr beflissen, zu lernen, wie man Lehrer ist als zu lernen, was man sonst auf Universitäten lernt. Dabei hielt mich immer das Bewußtsein aufrecht, daß es mir einmal nicht an den Kenntnissen fehlen werde, die man bei einem Akademiker beansprucht, und vertraute dabei der Eigenheit meiner Natur, daß sie sich durch eignen Trieb und nach eignem System das Wissenswürdige zusammenholen werde. Und meine Erfahrung hat dies Vertrauen bis jetzt gutgeheißen. Als Ziel schwebt mir vor, ein wahrhaft praktischer Lehrer zu werden und vor allem die nötige Besonnenheit und Selbstüberlegung bei jungen Leuten zu wecken, die sie befähigt, das Warum? Was? und Wie? ihrer Wissenschaft im Auge zu behalten.


Man wird nicht verkennen, daß in dieser Betrachtungsweise ein philosophisches Element liege. Der junge Mann soll erst in jenen Zustand des Erstaunens geraten, den man das philosophon pathos kat exochên genannt hat. Nachdem das Leben sich vor ihm in lauter Rätsel zerlegt hat, soll er bewußt, aber mit strenger Resignation sich an das Wissensmögliche halten und in diesem großen Gebiete seinen Fähigkeiten[132] gemäß wählen. Wie ich zu diesem Standpunkte gekommen bin, will ich zunächst erzählen. Hier erscheint denn zum ersten Male der Name Schopenhauer auf diesen Blättern.

Verstimmungen und Verdrießlichkeiten persönlicher Art pflegen bei jungen Leuten leicht einen allgemeineren Charakter anzunehmen, wenn sie sonst nur zur dyskolia geneigt sind. Ich hing damals gerade mit einigen schmerzlichen Erfahrungen und Enttäuschungen ohne Beihilfe einsam in der Luft, ohne Grundsätze, ohne Hoffnungen und ohne eine freundliche Erinnerung. Mir ein eignes anpassendes Leben zu zimmern war mein Bestreben von früh bis abend; dazu brach ich die letzte der Stützen ab, die mich an meine Bonner Vergangenheit fesselte; ich zerriß das Band zwischen mir und jener Verbindung. In der glücklichen Abgeschiedenheit meiner Wohnung gelang es mir mich selbst zu sammeln; und wenn ich mit Freunden zusammentraf, so war es eben mit Mushacke und v. Gersdorff, die für ihren Teil mit gleichen Absichten umgingen. – Nun vergegenwärtige man sich, wie in solchem Zustande die Lektüre von Schopenhauers Hauptwerk wirken mußte. Eines Tages fand ich nämlich im Antiquariat des alten Rohn dies Buch, nahm es als mir völlig fremd in die Hand und blätterte. Ich weiß nicht welcher Dämon mir zuflüsterte: »Nimm dir dies Buch mit nach Hause«. Es geschah jedenfalls wider meine sonstige Gewohnheit, Büchereinkäufe nicht zu überschleunigen. Zu Hause warf ich mich mit dem erworbenen Schatze in die Sofaecke und begann jenen energischen düsteren Genius auf mich wirken zu lassen. Hier war jede Zeile, die Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt Leben und eigen Gemüt in entsetzlicher Großartigkeit erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an, hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle und Himmel. Das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, ja Selbstzernagung packte mich gewaltsam; Zeugen jenes Umschwunges sind mir noch jetzt die unruhigen, schwermütigen Tagebuchblätter jener Zeit mit ihren nutzlosen Selbstanklagen und ihrem verzweifelten Aufschauen zur Heiligung und Umgestaltung des ganzen Menschenkerns. Indem ich alle meine Eigenschatten und Bestrebungen vor das Forum einer düsteren Selbstverachtung zog, war ich bitter, ungerecht und zügellos in dem gegen mich[133] selbst gerichteten Haß. Auch leibliche Peinigungen fehlten nicht. So zwang ich mich vierzehn Tage hintereinander immer erst um zwei Uhr nachts zu Bett zu gehen und es genau um sechs Uhr wieder zu verlassen. Eine nervöse Aufgeregtheit bemächtigte sich meiner und wer weiß bis zu welchem Grade von Torheit ich vorgeschritten wäre, wenn nicht die Lockungen des Lebens, der Eitelkeit und der Zwang zu regelmäßigen Studien dagegen gewirkt hätten.


In jene Zeit fällt die Gründung des philologischen Vereins. Eines Abends waren mehrere ehemalige Bonner Studenten zu Ritschl eingeladen, darunter ich selbst. Nach Tische regte uns unser Gastgeber lebhaft zu der Idee an, welche dem philologischen Vereine zugrunde lag. Die Frauen waren gerade im Nebenzimmer, und so störte nichts den Erguß des lebhaften Mannes, der aus der Erfahrung von der Wirksamkeit und dem Einfluß solcher Vereine zu erzählen hatte. Der Gedanke faßte in uns vieren Wurzel, das heißt in Wisser, Roscher, Arnold und mir. Wir sahen uns im Kreise unsrer Bekannten um und luden dann für einen Abend die Auserwählten in die »Deutsche Bierstube« zur Konstituierung eines Vereines zusammen. Acht Tage später hielten wir unsre erste regelmäßige Versammlung. Wir verlebten das erste halbe Jahr ohne Präsidenten und machten immer am Beginn eines Vereinsabends einen von uns zum Vorsitzenden. Was gab es da für aufgeregte zügellose Debatten! Wie schwer war es da, aus dem allgemeinen Lärm nur etwas als Meinung des gesamten Vereines zu retten! Es war am 18. Januar 1866, als ich meinen ersten Vortrag hielt und damit gewissermaßen mein Debüt in der philologischen Welt. Ich hatte angekündigt, daß ich in der Restauration von Löwe, Nikolaistraße, über die letzte Redaktion der Theognidea sprechen werde. Hier im gewölbten Raume konnte ich, nachdem ich die erste Schüchternheit überwunden hatte, kräftig und mit Nachdruck mich ausgeben und hatte auch den Erfolg, daß meine Freunde den größten Respekt vor dem Gehörten äußerten. Erstaunlich erquickt kam ich tief in der Nacht nach Hause und setzte mich an mein Pult, um in das Buch der Betrachtungen bittre Worte zu schreiben und auf der Tafel meines Bewußtseins die genossene Eitelkeit möglichst zu vertuschen.[134]

Dieser günstige Erfolg machte mir Mut, meine Arbeit, wie sie war, in Folio, durch und durch mit Randglossen versehen, eines Mittags zu Ritschl zu bringen, dem ich sie in Gegenwart Wilhelm Dindorfs schüchtern einhändigte. Später erfuhr ich, wie unangenehm und lästig Ritschl derartige Zumutungen sind. Genug, er nahm die Arbeit an, vielleicht beeinflußt durch die Anwesenheit Dindorfs. Einige Tage darauf wurde ich zu ihm gerufen. Er sah mich bedenklich an und hieß mich Platz nehmen. »Zu welchem Zwecke«, fragte er, »haben Sie diese Arbeit bestimmt.« Ich sagte das Zunächstliegende, daß sie, einem Vortrage unsres Vereins zugrunde gelegt, schon ihren Zweck erfüllt habe. Jetzt fragte er nach meinem Alter, meiner Studienzeit usw., und als ich ihm Bescheid gegeben, erklärte er, noch nie von einem Studierenden des dritten Semesters etwas Ähnliches der strengen Methode nach, der Sicherheit der Kombination nach gesehen zu haben. Darauf forderte er mich lebhaft auf, den Vortrag zu einem kleinen Buche umzuarbeiten und verhieß mir seine Hilfe, um einige Kollationen mir zu beschaffen. Nach dieser Szene ging mein Selbstgefühl mit mir in die Lüfte. Mittags machten wir Freunde zusammen einen Spaziergang nach Gohlis, es war schönes, sonniges Wetter, und mir schwebte mein Glück auf den Lippen. Endlich im Gasthofe, als wir Kaffee und Pfannkuchen vor uns hatten, hielt ich nicht mehr zurück und erzählte den neidlos staunenden Freunden, was mir widerfahren sei. Einige Zeit ging ich wie im Taumel umher; es ist die Zeit, wo ich zum Philologen geboren wurde, ich empfand den Stachel des Lobes, das für mich auf dieser Laufbahn zu pflücken sei.


Besonders einem meiner Umgebung mochte ich durch das Erlebte imponiert haben. Das war der junge Gottfried Kinkel, mit dem ich von Stund an in nähere Berührung kam. Von diesem seltsamen Kauze muß ich einiges sagen: Ein kleines schwächliches Männchen mit altem, bartlosem Gesicht. Dabei eine Geschmeidigkeit der Bewegung, die an vielen Umgang mit Frauen erinnerte. Eine englische Gleichgültigkeit und Apathie gegen etwas, was er nicht bemerken wollte. Merkwürdig aber war vor allem, daß, obgleich er sich selbst in kleinen Verhältnissen bewegte, auch als Philolog kaum andre als halb mechanische Arbeiten trieb, er doch alles gleichsam mit Vergrößerungsgläsern[135] um sich erblickte, vor allem seine Freunde. Wenn er einen von uns zu beschreiben anfing, so sahen wir uns mit Gelächter in hyperbolische Wesen verwandelt. Genug, dies war seine Art, und er sonnte sich wahrscheinlich selbst gemächlich im Glanze seiner selbstgeschaffenen Sonnen. Wir luden uns öfter gegenseitig ein, musizierten miteinander und ergingen uns in Gesprächen über Ziele der Philologie. Er, dem immer die politischen Prinzipien seines Vaters vorschwebten, er, der mitunter Vorträge in Arbeitervereinen hielt, wollte durchaus, daß politische Zwecke im Hintergrunde stehen müßten, während ich nach meiner Art die selbstlose Würde der Wissenschaft vertrat. Plötzlich war er umgestimmt, erhob sich, erfaßte meine Rechte und schwur von jetzt ab nach meinen Grundsätzen zu leben. Unser Umgang mit ihm war ein Komplex von Respekt, Mitleid und Erstaunen. Seine kleinen wissenschaftlichen Arbeiten von entschiedenem Unwerte pflegte er doch jedesmal druckfertig zu machen, weil er sie als kleine Meisterstücke ansah. Daß er dabei auch dichtete, weiß ich, und er mochte oft den Wunsch hegen, seine Geburten mir vorzulegen, wenn ich nicht mit größter Entschiedenheit mich gegen alle diese Jugenddichtereien erklärt hätte; ich pflegte die Zeit der Selbsterkenntnis von da an bei einem Jüngling zu datieren, wo er seine Dichtungen in den Ofen steckt, und habe es selbst dieser meiner Anschauung gemäß in Leipzig gemacht. Friede auch dieser Asche!


Damals speiste ich mit meinen Freunden zusammen bei Mahn am großen Blumenberg in nächster Nähe des Theaters. Von dort gingen wir regelmäßig in das Café Kintschy, das für mich besondre Vorzüge hatte. Es verkehrte dort nur ein auserwählter Kreis von Stammgästen, darunter Prof. Wenzel, den wir den »Kater« nannten, ein kleiner Mann mit lebhafter Verbissenheit und flatternden weißen Haaren, dann der Redakteur der Leipziger Signale, die wir unschuldigerweise, bevor wir den Herrn erkannten, zum Objekte unsrer schalkischen Bemerkungen gemacht hatten. Viel Neigung brachten wir dem liebenswürdigen Schweizer Kintschy zu, einem wohlwollenden, aufgeklärten Manne, der sich gern seiner früheren Gäste Stallbaum, Herloßsohn und Stolle erinnerte; deren Bilder an den altertümlichen braunen Wänden hingen. In diesen überwölbten Räumen durfte nicht geraucht[136] werden; mir geschah damit etwas sehr Angenehmes. – Abends und besonders sonnabends waren wir in der neugegründeten Weinstube von Simmer zu finden. Hierhin kam mein Freund Mushacke, hierhin v. Gersdorff, mit dem ich viel auszutauschen hatte, nachdem er in Göttingen ähnliche Dinge erlebt und ausgestanden hatte, wie ich in Bonn. Jetzt waren diese beiden Freunde die ersten, auf die ich den vollen Strom einer Schopenhauerschen Batterie lenkte, weil ich beurteilen konnte, daß sie für solche Anschauungen empfänglich seien. Wir drei fühlten uns fortan lebhaft im Zauber des einen Namens verbunden. Auch schauten wir lebhaft nach anderen Naturen aus, die wir in dasselbe Netz ziehen wollten. Von diesen ist einer bemerkenswert, namens Romundt aus Stade in Hannover. Mit einem schreienden peinlichen Organ schreckte er zuerst die Menschen von sich ab. Und so ging es auch mir, bis ich mich gewöhnte, über diesen äußeren Eindruck hinwegzuhören. Er befand sich in unglücklichen Verhältnissen. Seine begabte Natur wies ihm nach keiner Seite hin ein bestimmtes zu erstrebendes Ziel an. Die Elemente eines Forschers, Dichters, Philosophen waren trostlos gemischt, so daß er sich in ewigem Ungenügen verzehrte. Daß auch seine Augen auf den Namen Schopenhauer gebannt wurden, versteht sich von selbst, nachdem ich einiges über seine Natur gesagt habe. Bei andern mißlangen mir meine Bekehrungsversuche völlig. Z. B. bei Wisser, bei dem zunächst ein verwandter Fond zu bemerken war. Es fehlte ihm aber überhaupt an Neigung zu philosophischer Vertiefung und an der dazu nötigen Vorbildung. An ihm fiel mir vor allem ein rastlos wühlender Ehrgeiz auf, der, weil er keine Befriedigung fand, seine ganze Natur, vornehmlich sein Nervensystem, in Aufregung versetzte. Er sehnte sich danach, in seiner Wissenschaft etwas zu entdecken und war mitunter glücklich über einen angeblich bedeutenden Fund, in dem wir anderen bei genauer Besichtigung nichts als Schlacken zu entdecken vermochten. Dabei besaß er eine liebenswürdige Neigung, mit Kindern und alten Bürgersleuten umzugehen und fühlte sich in einfachen, ländlichen Verhältnissen, wo er etwas gelten konnte, am wohlsten. Uns quälte er bald mit einer neuen Zerteilung des Johannesprologs, bald mit Ausscheidungen des Tibull aus Tibull und konnte recht böse werden, daß wir an seinen Bestrebungen keinen Nutzen und Mangel an Methode[137] herausfühlten. Hoffentlich geht es diesem gutherzigen schwärmerischen Gemüte besser.


Ich benutze die Gelegenheit, hier etwas von anderen Personen einzuschieben, die mit mir in Berührung kamen. Da fällt mir zunächst Hüffer ein, der unsre beiden Bekannten Romundt und Wisser fortdauernd auf das wunderlichste quälte und neckte und sich dadurch Wissers Feindschaft und Romundts Freundschaft auf den Hals schaffte. Ein talentvoller Mensch, dem die Natur den Begriff der Taille versagt hatte, trieb er die schönen Künste, vornehmlich Musik, mit Eifer, übersetzte gewandt aus dem Französischen und sah sich, da er sehr vermögend war, mit Ruhe dem Strome des Literatentums entgegenschwimmen. Wir lagen uns immer in den Haaren in musikalischen Punkten; vornehmlich über die Bedeutung Wagners ging uns nie die Stimme und die Galle aus. Ich gebe ihm jetzt nachträglich zu, daß sein musikalisches Urteilen und Empfinden feiner, vor allem gesunder entwickelt war als das meinige. Aber damals vermochte ich dies nicht einzusehn und empfand manchen Schmerz über seinen rücksichtslosen Widerspruch. Überhaupt stieß er leicht einmal mit seinem ungenierten Wesen an. So waren wir einmal zusammen in die Familie Ritschls eingeladen. Hüffer wälzte seine breite Gestalt auf einen Sessel und rief, als dieser von der ungewohnten Last knackte, lustig aus: »Oho, der ist nicht koscher«, ein Wort, das die Frau Ritschl, eine getaufte Jüdin, offenbar stark verletzen mußte. Nicht anders erging es ihm, als wir einmal im ersten Range des Leipziger Theaters uns freimütig über eine am Tage zuvor aufgetretene Sängerin unterhielten. Wir lobten ihren Gesang, um so mehr aber mißfiel ihr wunderlich häßliches Gesicht, dessen Seltsamkeit Hüffer in verschiedenen Bildern laut und heftig beschrieb. Welche Empfindung aber, als eine Dame, drei Schritt schräg vor uns, sich ruhig umdrehte und den öffentlichen Tadlern ihr Gesicht, eben jenes wunderlich häßliche Gesicht zuwandte. Ärgerlich, jemand umsonst verletzt zu haben, machten wir unsre Sache nicht besser, als wir ihr nach dem Theater ein Bukett mit der Inschrift »der Nachtigall die Rose« zuschickten. Ein gewandter Dienstmann war bald angeworben und ergötzte uns nachher, als wir im Italienischen Garten zu Abend aßen, mit der Schilderung, wie er den[138] augenblicklichen Aufenthalt der betreffenden Dame erfahren habe.

Seit jenem Tage, wo Ritschl meine Theognispapiere so günstig abgeschätzt hatte, war ich zu ihm in ein näheres Verhältnis gekommen. Fast wöchentlich ein paarmal ging ich in der Mittagsstunde zu ihm und fand ihn da jederzeit bereit, ein ernstes oder lustiges Gespräch anzuknüpfen. Gewöhnlich saß er in seinem Lehnstuhl und hatte die Kölnische Zeitung vor sich, die er samt der Bonner Zeitung aus alter Anhänglichkeit noch las. Auf dem Tisch stand gewöhnlich unter einer wüsten Menge von Papieren ein Glas Rotwein. Wenn er arbeitete, so bediente er sich eines Sessels, den er selbst gepolstert hatte, indem er die Stickerei eines ihm geschenkten Ruhekissens abtrennte und auf einen dürftigen Holzschemel, der ohne Lehne war, nagelte. In seinen Gesprächen war er frei von jeder Zurückhaltung; sein Zorn gegen seine Feinde, Unzufriedenheit über bestehende Zustände, Schäden der Universität, Marotten der Professoren, alles sprudelte aus ihm heraus, so daß er hierin wohl das Gegenstück eines diplomatischen Naturells aufwies. Ebenso scherzte er über sich selbst, über seine geringe Wirtschaftlichkeit, z. B. mit der er früher die eingenommenen Gelder in 10, 20, 50, 100 Taler-Scheinen in Bücher versteckt habe, um sich über ihr Wiederfinden zu freuen. Daß dabei mitunter durch das Verborgen von Büchern seltsame Zustände hervortraten, daß mancher arme Student sich durch eine Gabe überrascht fühlte, für die es kaum anständig war, Dank und Empfang auszusprechen, das pflegte uns seine Frau zu erzählen, und Vater Ritschl mußte mit verschämten Mienen seine Zustimmung geben. In der Tat war sein Eifer andern Leuten zu nützen wahrhaft großartig; und daher kommt es, daß so viele junge Philologen außer der Förderung, die sie ihm in wissenschaftlichen Dingen schuldeten, sich ihm auch noch persönlich zur nächsten Anhänglichkeit verpflichtet fühlten. Er besaß unbedingt eine Überschätzung seines Fachs und hatte demgemäß eine Abneigung dagegen, daß Philologen sich näher mit der Philosophie einließen. Seine Schüler hinwiederum suchte er möglichst schnell der Wissenschaft nutzbar zu machen; daher pflegte er die produktive Ader eines jeden leicht etwas zu überreizen. Dabei war er frei von jedem Credo in der Wissenschaft; und besonders verdroß ihn ein unbedingtes urteilsloses Hingeben an seine Resultate.
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Eine völlig verschiedne Natur lernte ich an Wilhelm Dindorf kennen. Eines Tages wurde ich von Ritschl befragt, ob ich wohl einmal eine Arbeit für ein reichliches Honorar unternehmen wolle, die der Wissenschaft von entschiedenem Nutzen sei. Ich entgegnete, daß ich nicht abgeneigt sei, falls ich selbst dabei meine Rechnung fände und etwas Hinreichendes lernen könne. Da vertraute mir denn Ritschl, daß es Prof. Dindorf viel an Fertigung eines neuen Index zum Äschylus liege, und er mit mir darob zu sprechen wünsche. Da stand ich zum ersten Male in meinem Leben in einer großen Gefahr von einer Seite aus, wo man mir wohlwollte. Ich ging also eines Abends zu Dindorf und wurde, nachdem man mir erst vormachen wollte, daß der Professor nicht zu Hause sei, nach Nennung meines Namens vorgelassen. Ein starker Mann mit pergamentnen Zügen und formeller Höflichkeit, eine Persönlichkeit, die einen altmodischen Eindruck machte, die aber in dem forschenden, unbeweglich scheinen wollenden Auge einen Zug hatte, welcher aufforderte, daß man auf seiner Hut sei: ein solcher Mann öffnete mir die Tür und geleitete mich in ein altfränkisches Zimmer. Wir suchten uns über die verlangte Aufgabe zu verständigen. Er verlangte von meiner Seite eine Probe, die ich ihm versprach. Bei späteren Besuchen, nachdem er mein opusculum über Theognis kennengelernt hatte, wurde er mir bedenklich durch die freie, ja freche Art, mit der er mich lobte, insgleichen mit seinen hingeworfnen Ansichten, die einen starken, aber unethischen Pessimismus verrieten: anderseits leuchtete ein widerwärtiger merkantiler Egoismus hervor. Sein Markten mit Konjekturen, sein Hin- und Herverkaufen seiner Ausgaben an deutsche und englische Buchhändler, noch mehr sein Zusammenhang mit dem berüchtigten Simonides, haben mich allmählich scheu gemacht, so daß ich endlich mich von ihm zurückzog und alle gemachten Propositionen aus den Händen fallen ließ. Schließlich war dies sogar der Rat Ritschls, der selbst mancherlei von Dindorfs angeblichen Dienstfertigkeiten zu leiden hatte.

Später wurde ich auch mit dem entschiedensten Gegner Dindorfs bekannt, mit dem weit und breit berühmten Tischendorf. Es waren meinen Händen einige Pergamentblätter verschiedener Jahrhunderte, darunter ein Palimpsest aus dem Nachlasse des Prof. Keil anvertraut[140] worden, über deren etwaigen Wert ich im Interesse der Witwe Erkundigungen einziehen sollte. Diese Gelegenheit benutzte ich, um mir Zutritt zu einem Manne zu verschaffen, der im Ausland als Vertreter der spezifisch deutschen Wissenschaft zu einem unerhörten Ansehn gekommen war und darüber in dem engeren Kreis deutscher Gelehrter selbst seinen Ruf vollkommen eingebüßt hatte. Ich wußte, mit wem ich zu tun hatte als ich eines Abends in einer entfernten, schönen, ruhigen Straße nach seinem Namen fragte. Der »Hofrat« war gerade abwesend, und ich würde abgewiesen sein, wenn ich nicht dem Diener sowie nachher der Gattin plausibel gemacht hätte, daß er in jedem Moment kommen müsse. So gewann ich denn das Terrain seiner Studierstube, in der ich nichts Gelehrtes entdecken konnte; Briefkuverte und griechische Bibeltexte lagen in Menge herum. Dagegen erzählt man sich von einem Fache, in dem die opera omnia des großen Mannes zu finden seien und von einem Schranke, der zum Hüter der zahllosen Orden und Auszeichnungen bestimmt sei, mit denen Fürsten und Akademien den glücklichen Finder geehrt haben. Als er darauf erschien, der kleine, etwas bucklige Mann mit frischem rotem Gesichte und schwarzem gekräuseltem Haupthaar, legte ich ihm mein Anliegen vor, das er denn auch mit Recht als Bagatelle behandelte, aber doch dabei an zwei Zügen seinen Charakter hervorblicken ließ. Sobald er das eine Blatt mit einer musterhaft schönen griechischen Kursivschrift des 11. Jahrhunderts erblickte, behauptete er kühnlich, er besitze das andere dazugehörige Stück dieses Blattes, ohne übrigens den Beweis dafür anzutreten. Wie ich ihn darauf auf jene total verwischte Schrift eines andren Blattes hinwies, auf dem nur einzelne zerstreute Buchstaben dem angestrengten Auge deutlich wurden, las er eben so rasch als verwegen an einer Stelle, wo ich fast nichts erblickte, ein Wort heraus, das sich nur einmal im Markusevangelium finden soll und das demnach beweisen dürfte, daß wir es mit einem Stück jenes Evangeliums zu tun hätten. Ich freute mich innerlich über diesen Taschenspielerstreich, wie er sich auch seinerseits freuen mochte, ein scheinbar so glänzendes specimen ingenii gegeben zu gaben. Dadurch vertraulicher gemacht, begann er mir eine Menge ausgezeichneter Blätter vorzulegen und zugleich meinen Appetit nach seinem angekündigten Kolleg über Paläographie auf das äußerste zu reizen. Dies[141] ist auch wirklich das Kolleg, was ich mit stetem Eifer gehört habe, ob gleich hier für Methode und systematischen Vortrag gar nichts zu lernen war. Ob man dieses Kolleg eine Paläographie oder »Tischendorfsche Erlebnisse und Erinnerungen« betiteln solle, konnte man zweifelhaft sein. Jedenfalls war es von einem Hautgout umflossen, der gerade an einem Verfechter gläubiger Theologie doppelt pikant war. Einen Hauptpunkt bildete die bis in die unsauberen Details ausgemalte Darstellung des Simonidesbetrugs und der Enthüllung durch Tischendorf. Dabei waren trotz der Prinziplosigkeit des Vertrags die eingestreuten Bemerkungen und Beobachtungen von äußerstem Werte für Freunde der Paläographie, weil jedenfalls der Mann noch nicht gelebt hat, noch lebt, der wie Tischendorf zweihundert griechische Handschriften, die vor das neunte Jahrhundert zu datieren sind, mit geübtem Auge betrachtet und zu paläographischen Zwecken studiert hat. Zugleich war er im Besitz der kostbarsten Proben und Belege für alle Arbeiten von Schriftcharakteren, wie er andererseits unsre Neugierde durch den Hinweis auf verborgne, irgendwo noch unberührt schlummernde Schätze zu wecken verstand. So lockte er uns mit einem kostbaren Papyrus voll großer Homerstücke, der in den Händen eines Engländers in Alexandrien befindlich sei, aber nur dem Bräutigam seiner Tochter, einer braunen, nicht mehr jungen Dame, ausgehändigt werden solle.

Ebenso erzählte er mir von einem noch unbenutzten Palimpsest in Neapel. Durch seine Vermittlung wurden mir auf der Universität die noch nicht gelesenen Palimpseste eingehändigt, die unter einer derben syrischen Schrift die Charaktere des siebenten Jahrhunderts enthalten. In diesen ca. dreißig Blättern schlummern die Reste eines griechischen Grammatikers, der wie es scheint peri orthographias handelt. Noch will ich bemerken, daß ich hierin ein Hesiodfragment von drei Worten vorfand.


I] MEPOENT A METEIXE....

MÊDEA ÔS ÊSIODOS


Im Privatverkehr war Tischendorf unerschöpflich in Ausbrüchen der naivsten und ungetrübtesten Eitelkeit. Stolz war er vor allem, daß der große Deutschenfresser Cobet an ihm sein Behagen gefunden habe. »Die deutschen Philologen verstehen alle nichts«, soll er gesagt haben,[142] »du allein bist der wahre Kerl.« Als Hermann einmal etwas von ihm wünschte, so antwortete ihm Cobet nicht einmal. Mir aber schrieb er »glühende Liebesbriefe«. In dieser Art plauderte er von seinen Freunden, über deren Unwissenheit in paläographischen Dingen er in andern Stunden hinwiederum Witze riß. Tischendorfs Eitelkeit ist verletzend und ekelerregend: aber man sagt sich nach zwei Minuten seiner Bekanntschaft, daß man hier vor einem psychologischen Problem steht. In dem Bilde dieses Mannes stehen mehrere disparate Züge: äußerst klug und gewandt, ja diplomatisch schlau, schwärmerisch, frivol, äußerst scharfblickend in seinem Fach, peinlich genau bei seinen Publikationen, naiv eitel ohne jede Grenze, geizig, defensor fidei, Höfling, buchhändlerischer Spekulant: voilà eine Karte seiner Charaktereigenschaften, die bunt genug aussieht. Jedenfalls eine psychê poikilê.

In dem zweiten Winter, den ich in Leipzig verlebte, habe ich mich angelegentlich mit paläographischen Studien befaßt. Ich hatte durch Ritschl einen fast unbeschränkten Zutritt zu den handschriftlichen Schätzen der Leipziger Ratsbibliothek erlangt und befand mich hier bei der Zuvorkommenheit der Bibliothekare äußerst wohl. In dem düsteren Zimmer des Gewandhauses saß ich in den Nachmittagsstunden wohlgemut am langen grünen Tisch, vor mir eine lateinische Handschrift, sei es eine des Terenz oder des Statius oder des Orosius. Nicht wenig zogen mich auch die Rätsel des Aldhelmus an, für die ich wertvolle und zahlreiche Varianten entdeckte. An einem Orosiuscodex des elften Jahrhunderts fand ich eine Art Wortregister angeheftet, demselben Jahrhundert zugehörig, mit zerstreuten deutschen Worten darin, z. B. steofvater, frosco snebal, rocchen (colo) usw. Aus der reichen Masse älterer Drucke ist mir ein Walter Burley aufgefallen, den die bibliographischen Handbücher nicht kennen: Walter Burley de vita philosophorum auf der Leipziger Ratsbibliothek HL φaa ohne Namen des Verfassers und ohne Datum, sieben Blätter Register, zwei Kolumnen, fünfzig Blätter Text, auf fünfzig rechts, eine Kolumne explicit. gotische Schrift. Das Wasserzeichen:[143]


Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre

Hier ist auch der Ort, der ausgezeichneten Zuvorkommenheit zu gedenken, mit der mich die Beamten der Universitätsbibliothek jederzeit behandelt haben. Ihr Benehmen erinnerte an die vielgerühmte sächsische Höflichkeit und Gefälligkeit, ohne deren Schattenseiten zu haben. Meine Bücherwünsche sind oft mit Aufopferung von Zeit und Mühe durch die vortrefflichen Herren besorgt worden; niemals haben sie mir ihren Mißmut gezeigt, wenn ich allzu häufig und mit allzuviel Ansprüchen erschien. Ich nenne mit besonderer Anerkennung den Namen des Prof. Pückert.


In unserm philologischen Verein habe ich vier größere Vorträge gehalten, und zwar diese

1. die letzte Redaktion der Theognidea,

2. die biographischen Quellen des Suidas,

3. die pinakes der aristotelischen Schriften,

4. Der Sängerkrieg auf Euböa.


Diese Themata kennzeichnen ungefähr die Hauptrichtungen meiner Studien. Dabei muß ich bemerken, daß zu dem dritten Punkte ich als Hintergrund die Laertianische Quellenkritik aufbaute. Zu dieser Studie fühlte ich von Anfang an Neigung; schon in meinem ersten Leipziger Semester ist manches hierauf Bezügliche zusammengestellt worden. Auch erzählte ich Ritschl manches hierüber. So geschah es denn, daß er eines Tages geheimnisvoll andeutend mich fragte, ob ich eine Untersuchung über die Quellen des Laertius auch unternehmen würde, wenn ich von einer andern Seite aus eine bestimmte Anregung erhielte. Ich quälte mich lange mit dem Sinne dieser Worte, bis ich in einem Momente der Erleuchtung die Sicherheit gewann, daß das nächste von der Universität zu stellende Preisthema jene Frage zum Objekt haben werde. Am Morgen, wo die Themata publiziert werden, eile ich zu Kintschy und ergreife aufgeregt die Leipziger Nachrichten; richtig, da fällt mein Auge auf die ersehnten Worte de fontibus Diogenis Laertii. Die folgende Zeit beschäftigten mich die einschlägigen Probleme fast Tag und Nacht; Kombination reihte sich an Kombination, bis endlich in den Weihnachtsferien, die ich zu einer Sichtung der bisherigen Resultate benutzte, plötzlich jene Erkenntnis heraussprang, daß zwischen den Suidas- und den Laertiusfragen ein bestimmtes Band[144] zu bemerken sei. Ich bewunderte an jenem Abend, wo ich die Erkenntnis fand, den glücklichen Umstand, daß ich erst über die Quellen des Suidas, dann über die des Laertius, wie durch einen sichern Instinkt getrieben, geforscht hatte und nun plötzlich die Zügel für beide Fragen in der Hand hielt. – So schnell und behend ich mit meiner Kombination von Tag zu Tag vorrückte, um so schwerer konnte ich mich nachher zur Ausarbeitung meiner Resultate entschließen. Aber die Zeit drängte immer furchtbarer; und trotzdem verstrich mir die schöne Zeit des Sommers im fröhlichen Genusse und im Umgang mit Freund Rohde, ja neue wissenschaftliche Interessen fingen an mich zu quälen und zum anhaltenden Nachdenken zu zwingen. Vornehmlich die Homerfrage, auf die mein letzter Vortrag im Verein mit vollen Segeln lossteuerte. Endlich als keine Stunde mehr zu verlieren war, setzte ich mich nieder zur Laertiusarbeit und schrieb so einfach und schlicht wie möglich meine Ergebnisse zusammen. Der erschreckliche letzte Tag des Juli begann; ich drückte die Sporen mit aller Energie ein und erreichte es, daß ich abends um zehn Uhr mit dem fertigen Manuskript zu Rohde laufen konnte, in dunkler, regnerischer Nacht. Dort wartete mein Freund bereits auf mich und hatte zu meiner Erquickung Wein und Gläser bereitgesetzt.

Rohde hat in einem Briefe an mich selbst einmal das Bild gebraucht, daß wir beiden im letzten Semester gewissermaßen auf einem Isolierschemel gesessen haben. Dies ist völlig richtig, ergab sich mir aber erst, als das Semester vorüber war. Ganz ohne unsre Absicht, aber durch einen sichern Instinkt geleitet, verbrachten wir weitaus den größten Teil des Tages miteinander. Viel gearbeitet in jenem banausischen Sinne haben wir nicht und trotzdem rechneten wir uns die einzelnen verlebten Tage zum Gewinn. Ich habe es bis jetzt nur dies eine Mal erlebt, daß eine sich bildende Freundschaft einen ethisch-philosophischen Hintergrund hatte. Gewöhnlich sind es die gleichen Studienwege, die die Menschen zusammenführen. Wir beide haben aber unsre Gebiete in der Wissenschaft in ziemlicher Entfernung voneinander und waren nur einig in der Ironie und im Spott gegen philologische Manieren und Eitelkeiten. Für gewöhnlich lagen wir uns in den Haaren, ja es gab eine ungewöhnliche Menge von Dingen, über die wir nicht zusammenklangen. Sobald aber das Gespräch sich in die Tiefe[145] wandte, verstummte die Dissonanz der Meinungen, und es ertönte ein ruhiger und voller Einklang. Ist es aber nicht bei den meisten Freundschaften und Bekanntschaften umgekehrt? Und hat nicht hier gerade der junge Mensch manche arge Enttäuschung zu erleiden? Darum denke ich jetzt mit großem Vergnügen an jene ganze Zeit und rufe mir oft das Bild jener heitern Schützenhausnächte oder jener stillen Ruhestunden an einem lieblichen Winkel der Pleiße zurück, die wir als Künstler beide zusammen genossen haben, momentan losgelöst von dem Drängen des unruhigen Lebenswillens und reiner Betrachtung hingegeben.

Ich bemerke soeben, daß ich bei der Schilderung meiner Leipziger Vergangenheit etwas planlos hin- und herspringe und Personen und Halbjahre durcheinanderwerfe. Zur Orientierung für mich selbst notiere ich hier in Form eines Registers die bemerkenswerten Punkte für ein jedes Semester.


Semester I. Oktober 1865 bis Ostern 1866

Winter. Wohnung bei Rohn, Blumengasse 4, im Garten

Schopenhauer wird mir bekannt

»Kyrie« komponiert

Das »Buch der Betrachtungen«

Gründung des Vereins

Vortrag der Theognidea

Bekanntschaft mit Ritschl

Umgang mit Mushacke, v. Gersdorff

Vetter Schenkel

Riedelscher Verein: Johannespassion, Hohe Messe

Th. v. Arnold, Zukunftsmatineen

Der sächsische König in Leipzig

Kneipgelage der Leipziger Philologen

Arbeitsame Osterferien
[146]


Semester II. Ostern 1866 bis Oktober 1866

Sommer. Wohnung bei Riedigs, Elisenstraße 7, Parterre

Politische Aufregung

Abschätzung Bismarcks in Leipzig

Der deutsche Krieg

Einzug der Preußen in Leipzig

Umschwung der politischen Bekenntnisse

Vortrag über Quellen des Suidas

Ausarbeitung der Theognidea für das Rheinische Museum, in der Sadowawoche

Hedwig Raabe in Leipzig

Umgang mit Romundt, Windisch, Röscher, Hüffer, Kleinpaul

Kahnpartien

Dindorfs Antrag

Ferien in Kösen auf der Flucht vor der Cholera

Lexikalische Studien Versucht wird eine Systematik der Interpolationen in griechischen Tragikern


Semester III.

De fontibus Laertii wird angegriffen

Weihnachten werden die Resultate gefunden

Abhandlung über die aristotelischen pinakes geschrieben

Auf der Ratsbibliothek codd. verglichen

Bekanntschaft mit Tischendorf

Präsident im philologischen Verein

Mitglied der philologischen Sozietät

Onomatologische Studien


Semester IV. Ostern 1867 bis Herbst 1867

Sommer. Wohnung Weststraße 59

Schützenhausnächte

Umgang mit Rohde und Kleinpaul[147]

Beendigung der Laertiusarbeit

Vortrag über den Sängerkrieg auf Euböa

Konjekturenabend bei Simmer

Reitstunden mit Rohde bei Bieler

Letzte Vereinskneiperei

Offenbachs schöne Helena

Letzten Tage wohne ich im Italienischen Garten, eine Treppe höher als Rohde

Die Freunde zum letzten Male bei uns eingeladen

Abschied vom Studententum

Naturfreuden. »Nirwana«

Abschied von Ritschl

Reise in den Bayrischen Wald mit Rohde


Semester V. 5. Oktober 1867 bis Ostern 1868

Philol. Fest in Halle

Reise nach Berlin

Soldatentum

Demokritstudien

Meine Laertiusarbeit prämiiert

Pläne und Absichten. Geschichte der Literarischen Studien. De Homero Hesiodoque aequalibus. Vortragsausarbeitung. Über Schopenhauer als Schriftsteller

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 127-148.
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