10.
An Rudolf Buddensieg

[942] [Naumburg, 12. Juli 1864]


Mein lieber Buddensieg, bei Tische saß ich und feierte essend, trinkend und lachend meiner Schwester Geburtstag, als mir die Ankunft[942] Ihres Briefes angezeigt wurde. Am Tage darauf bekam ich eine nochmalige dringende und höchst freundliche Einladung, durch einen Domrichschen Commis vermittelt. Und trotzdem bin ich Unmensch genug, gegen Sie und nicht am wenigsten auch gegen mich – Ihrer Einladung nicht Folge zu leisten. Gründe mündlich, ich weiß zwar nicht wann; aber es ist entsetzlich heiß, und Gründe soll mir niemand abtrotzen, am wenigsten bei einer hautablösenden Temperatur, wenn auch die Gründe so wohlfeil wie Brombeeren und langweilig wie heiße Sommertage wären.

Glauben Sie mir dies, daß ich Ihnen nicht sowohl für Ihre Einladung von Herzen dankbar bin, als besonders für die schöne Erinnerung an mich und für die Fortpflanzung unsrer gegenseitigen Interessen, unsrer musikalischen Interessen.

Und nichts wäre mir erwünschter als mich Ihnen gegenüber wieder einmal über Musik aussprechen zu können, Ihnen den musikalischen Zustand Pfortas zu schildern und Ihnen einiges über meine eignen musikalischen Bestrebungen mitzuteilen.

Was nun Ihre Gedanken über die Wirkungen der Musik betrifft, so ist die Beobachtung, die Sie an sich gemacht haben, wohl mehr oder weniger allen musikalisch organisierten Menschen eigen; indessen ist diese Nervenerregung, dieser Schauer nicht die Wirkung der Musik allein, sondern aller höhern Künste. Erinnern Sie sich des analogen Eindruckes beim Lesen Shakespearescher Tragödien. Und wie bei diesen bald ein einziges Wort, bald eine drängende und fortreißende Szene, bald ein greller Gegensatz dieses Gefühl hervorruft, so erwecken auch durchaus verschiedenartige Musikwerke einen gleichen Eindruck, einen gleichen Nervenkitzel. Denken Sie daran, daß dies bloß eine physische Wirkung ist; ihr voran geht eine geistige Intuition, die auf den Menschen bei ihrer Seltenheit, Großartigkeit und Ahnungsfülle so einwirkt, wie ein plötzliches Wunderbares. Denken Sie nicht, daß der Grund dieser Intuition im Gefühl, im Empfinden liegt; nein, gerade im höchsten und feinsten Teile des erkennenden Geistes. Ist es Ihnen nicht als ob sich etwas Weites, Ungeahntes erschlösse, spüren Sie nicht, daß Sie in ein andres Reich hinübersehen, das dem Menschen für gewöhnlich verhüllt ist?

Bei dieser geistigen Intuition tritt der Hörer dem Komponisten so[943] nahe, als er nur treten kann. Über diese Wirkung hinaus gibt es keine in der Kunst; sie ist selbst eine schöpferische Kraft. Finden Sie den Ausdruck unpassend, den ich selbst vor zwei Jahren, als ich mehrere Bogen über diesen Gegenstand an meine Freunde schrieb, gewählt habe; ich nannte die Wirkung eine »dämonische«. Wenn es je Ahnungen höherer Welten gibt, so liegen sie hier verborgen.

Indessen ist die Materie weit, und Sie verzeihn mir, wenn ich ein paar Worte hingeschrieben habe, die wenig bedeuten. Ein Geheimnis liegt hier sicher verborgen: fragen Sie sich: Ob der Komponist immer oder selten dies Gefühl beim Schaffen habe? Ob dieser Eindruck nur von guter Musik veranlaßt werde, oder ob bei entsprechender Organisation des Menschen nur die seiner Geisteshöhe gemäße Musik diesen Eindruck gewährt? Ob man überhaupt aus diesem Eindruck einen Schluß auf die objektive Vollkommenheit eines Musikwerkes machen dürfe? Ob vorzügliche Musikwerke diesen Eindruck auf feine Naturen machen müssen? Und so der Rätsel viele. –

Ich schreibe eine Arbeit über Theognis von Megara, lateinisch; von Montag bis Sonnabend arbeitete ich daran, unmäßig fleißig und wurde fertig. Es wird wohl viel über 60 Bogenspalten geben.

Ob ich in Leipzig studiere, weiß ich nicht; zunächst hoffe ich auf Bonn, aber zu zweit, d. h. wenn meine Idee von Bonn vereitelt wird – auf Leipzig.

Ob ich mein Examen bestehen werde, weiß ich nicht; indessen hoffe ich es, wenn ich die Ferien sehr tüchtig benutze, es gut zu bestehen. Nachher schreibe ich Ihnen.

Aber nicht wahr, wir unterhalten einen Briefwechsel? Sie werden beisammen, haben Sie doch den Anfang gemacht.

Leben Sie recht glücklich. Herzlichen Dank.

Ihr FW. N.


der ärgerlich ist, Ihnen keinen bessern Brief schreiben zu können.

Aber ototoi der Hitze!

Dienstag Nachmittag 26° R. im Schatten.[944]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 942-945.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden