15.
An Hermann Mushacke

[957] Naumburg, Mittwoch

[30. August 1865]


Mein lieber Freund, so sehr ich mich über alles und jedes Deines ausnehmend lieben Briefes gefreut habe, so ärgerlich ist es für mich, daß ich Deinen gerechten und billigen Wunsch nicht erfüllen kann. Stelle Dir meine Lage vor: ich habe mehr Geld gebraucht als ich sollte, viel mehr; ich muß die leiseste Andeutung vermeiden, daß ich noch Schulden habe, um nicht meine Stellung unhaltbar zu machen. Und so bin ich denn in der verzweifelten Lage, Dir – wahrhaftig, fast mit Beschämung – schreiben zu müssen: »Ich kann nicht«. Und welche erbärmliche Summe!

Und trotzdem kann ich nicht mit dem Gedanken fertig werden, daß ich hier unfreundschaftlich handele. Ich kann Dir keine Vorwürfe machen, wenn Du mir deshalb böse bist. Damit springe ich von diesem Thema ab.

Du kannst es Dir vielleicht erklären, daß ich mit einem etwas unangenehmen Gefühl an Bonn zurückdenke. Den dort verlebten Dingen und Stimmungen stehe ich noch zu nahe, das ist richtig. Die bittre Schale der Gegenwart, der Wirklichkeit läßt mich noch nicht zum Genuß des Kerns kommen. Denn ich hoffe, daß ich auch dieses Jahr einstmals vom Standpunkte der Erinnerung aus freudig als ein notwendiges Glied meiner Entwicklung einregistrieren kann. Augenblicklich ist es mir nicht möglich. Noch scheint es mir, als ob ich das Jahr in mancher Beziehung fehlerhaft vergeudet hätte. Mein Verweilen in der Burschenschaft erscheint mir – offen gesagt – als ein faux pas, nämlich für das letzte Sommersemester. Damit ging ich über mein Prinzip hinaus, mich den Dingen und Menschen nicht länger hinzugeben, als bis ich sie kennengelernt habe.

So etwas straft sich selbst. Ich ärgere mich über mich. Diese Empfindung hat mir den Sommer etwas verdorben und sogar mein objektives Urteil über die Burschenschaft getrübt. Ich bin keiner der unbedingten Parteigänger der Frankonia. Ich kann mir recht wohl eine liebenswürdigere Gesellschaft denken. Ich halte ihre politische Urteilsfähigkeit für sehr gering, nur im Kopfe einiger weniger beruhend. Ich finde ihr Auftreten nach außen plebejisch und abstoßend. Da ich mit[957] meinen mißgünstigen Urteilen nicht zu sehr zurückhaltend war, habe ich meine Stellung den Mitgliedern derselben gegenüber unbequem gemacht.

Hier, lieber Freund, muß ich immer dankbar Deiner gedenken; wie oft habe ich bei Dir, nur bei Dir die verdrießliche Stimmung verloren, die mich für gewöhnlich beherrschte. Und deshalb sind die angenehmen Bilder von Bonner Vergnügungen für mich immer mit Deinem Bild verknüpft.

Mit meinen Studien muß ich, im Grunde genommen, auch unzufrieden sein, wenn ich auch viel Schuld auf die Rechnung der Verbindung schreibe, die meine schönen Pläne durchkreuzt hat. Gerade in diesen Tagen merke ich, was für eine wohltuende Beruhigung und Erhebung des Menschen in einer fortgesetzten eindringlichen Arbeit liegt. Diese Befriedigung habe ich in Bonn so selten gehabt. Ich muß höhnisch auf meine vollendeten Arbeiten aus der Bonner Zeit sehen, da ist ein Aufsatz für den Gustav-Adolf-Verein, einer für den burschenschaftlichen Abend und einer für das Seminar. Abscheulich! Ich schäme mich, wenn ich an dies Zeug denke. Jede meiner Pennalarbeiten war besser.

Aus den Kollegien habe ich vereinzelte Dinge abgerechnet nichts gelernt. Ich bin Springer für Genüsse dankbar, ich könnte Ritschl dankbar sein, wenn ich ihn fleißig benutzt hätte. Im allgemeinen bin ich darüber gar nicht unglücklich. Ich gebe viel auf eine Selbstentwicklung – und wie leicht kann man nicht von Männern wie Ritschl bestimmt werden, fortgerissen werden vielleicht gerade auf Bahnen, die der eignen Natur fernliegen.

Daß ich für das Verständnis meines Selbst viel gelernt habe, rechne ich als den größten Gewinn dieses Jahres. Und daß ich einen herzlich teilnehmenden Freund gewonnen habe, für keinen geringeren.

Das gehört nämlich für mich notwendig zusammen. Daß ich mit meiner vielfachen Zerrissenheit, mit meinem wegwerfenden oft frivolen Urteile noch einen solchen lieben Menschen an mich ziehen konnte, befremdet mich einesteils, doch hoffe ich aus demselben Grunde; und nur in Momenten, wo der Geist alles negiert, frage ich mich, ob nicht mein lieber Freund Mushacke mich nur zu wenig kennt –

Hier will ich wieder einmal Atem schöpfen und von etwas Neuem[958] beginnen. Ich arbeite jetzt tüchtig, wie schon gesagt. Theognis wird fürchterlich maltraitiert. Mit einer kritischen Schere, an einem langen methodischen Faden hängend, schneide ich ihm täglich einige aufgeflickten Flitter ab. Mitunter, wenn jeder Weg verschlossen scheint, möchte ich an der ganzen Untersuchung verzweifeln. Kommen Resultate heraus – was ich kaum übersehen kann –, werden sie in eine Arbeit für das Leipziger Seminar verwandelt. Für selbiges haben wir jetzt, falls Ritschl Direktor wird, Prioritätsaktien. Die Leipziger Philologen werden mir von Prof. Steinhart sehr ungünstig geschildert. Es fehlt das Leben für die Wissenschaft, die Leute wünschen baldiges Amt und Brot. Darum darf sich Ritschl keine Bonner Zustände mehr in Aussicht stellen. Die Tradition von G. Hermann soll spurlos in Leipzig verschwunden sein. Es fehlt alle Philosophie und alle Geschichte.

Immer noch weiß ich nicht gewiß, ob Mutter und Schwester mit nach Leipzig ziehn. Sicher ist aber eins – daß ich Dich vom iten Oktober an besuchen darf und es mit der größten Freude tun werde. Ich schreibe Dir noch einmal das Genauere, mit welchem Zuge ich ankommen werde usw.

Meine Gesundheit ist augenblicklich eine bessere als in Bonn. Man fand, daß ich etwas elend aussah, darum werde ich jetzt quasi aufgefüttert. Vor Gesellschaften halte ich mich zurück. Die Reizbarkeit der Nerven ist noch nicht beschwichtigt.

Ich spiele natürlich viel Klavier, genieße schon früh um 5 Uhr die klaren blauen Spätsommertage und sage mir oft im stillen, daß ich recht glücklich sein könnte. Dazu lese ich schöne Bücher, wie Laubes Reisenovellen und schöne Briefe, wie einer von meinem Freunde Mushacke aus Bonn kam und eine höchst humoristische Darstellung der dortigen Zustände enthielt.

Doch es wird dunkel. Ich schicke Dir einen herzenswarmen Gruß ins schöne Rheinland und wünsche Dir frohe und zufriedne Tage und Nächte.

Dein Fritz Nietzsche[959]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 957-960.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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