20.
An Carl von Gersdorff

[967] [Naumburg, Ende August 1866]


Lieber Freund, »die Post hat keinen Brief für mich?« wirst Du oft in Verwunderung gefragt haben. Aber sie hat einen von mir, die abscheuliche Post und hat ihn Dir nicht herausgerückt. »Sei still, mein Herz!«

Je länger der Zeitraum ist, in dem Du von mir nichts erfahren hast, je größer Dir mein Undank erscheinen muß, als welcher auf Deinen vorletzten ebenso herzlichen wie gedankenreichen Brief keine Zeile der Antwort zurückerstattete – weil nämlich die Nürnberger Feldpost meinen Brief verschlungen hat, ohne ihn wieder von sich zu geben – um so mehr fühle ich das Bedürfnis, das, was die Post verschuldet hat, wiedergutzumachen und mich also von dem scheinbar sehr gerechten Vorwurfe des Undankes zu entlasten. Es ist sehr bitter, Dich im Felde zu wissen, verstimmt durch fehlgeschlagne Pläne, durch wenig behagliche Umgebung, durch geisttötende Bewegungen und endlich gar durch die Nachlässigkeit eines Freundes. Denn nicht anders mußte es Dir erscheinen. Genug ich erröte, wie man öfters errötet, ohne sich schuldbewußt zu fühlen, in dem Gedanken, man könne irgendwodurch in der Meinung andrer, vorzüglich lieber Menschen sinken.

Deine Briefe waren meinem subjektiven Gefühle nach mit das angenehmste, was der Sommerfeldzug erzeugt hat. Wie ganz anders nimmt sich ein von Freundeshand geschildertes Ereignis, selbst kleiner Art, aus, als irgendwelche Großtaten, über denen der häßliche Dunst des Zeitungspapiers sich lagert.

Leider kann ich von meinen Erlebnissen nur weniges und dazu kleinliches mitteilen. Meine Arbeit ist fertig in Ritschls Händen: ich habe sie in drei Teilen zustande gebracht und bin so lange in Leipzig geblieben, bis ich den letzten Strich (meine Namensunterschrift) gemacht hatte. Nie habe ich mit solcher Unlust geschrieben; ich habe schließlich den Stoff in der einförmigsten Weise abgehaspelt: doch war Ritschl mit einem Teile, den er gelesen hatte, recht zufrieden. Im Oktober wird es wohl erscheinen. Ritschl will die Arbeit aufmerksam durchlesen, auch Wilhelm Dindorf hat sich die Erlaubnis ausgebeten. Mit letzterem trete ich wahrscheinlich in Geschäftsverbindung. Er hat mir durch Ritschl den Antrag machen lassen, ob ich ein Äschyloslexikon[967] nach dem neuesten Standpunkte der Äschyloskritik ausarbeiten wolle. Natürlich für gutes Honorar. Ich habe mir überlegt, daß ich dabei viel lernen kann, daß ich mit Äschylos recht intim vertraut werde, daß ich die Dindorfsche (unter deutschen Gelehrten einzig vollständige) Kollation des cod. Mediceus in die Hände bekomme, daß ich bequeme Gelegenheit, ja Nötigung habe, mir ein Stück, etwa die Choephoren, zu einer zukünftigen Vorlesung vorzubereiten und bin nach allen diesen Überlegungen darauf eingegangen. Nur muß ich erst meine Befähigung dazu nachweisen, indem ich einen Probebogen in diesen Ferien auszuarbeiten habe. Übrigens ist eine solche Arbeit bei Äschylos gerade nicht uninteressant; man ist genötigt, fortwährend strengste Kritik zu üben gegen die Unzahl von Konjekturen. Dindorf veranschlagte das Buch mindestens auf 60 Bogen. Nach den Ferien trete ich mit Teubner – falls ich angenommen werde – in Geldunterhandlungen. Ritschl ist immer freundlicher gegen mich.

Folglich bleibe ich auch nächstes Semester in Leipzig, wo es mir, alles gerechnet, vortrefflich behagt. Sollte es Dir nicht möglich sein, in Leipzig fortzudienen? Ich wäre darüber sehr glücklich, denn Du fehlst mir ganz besonders. Zwar habe ich jetzt viel Bekannte, aber keinen, mit dem ich so viel gemeinsame Vergangenheit und Gegenwart habe als mit Dir. Vielleicht kann ich auch den alten Deussen noch bewegen, nach Leipzig zu kommen; er schrieb mir neulich, er sehe jetzt vollkommen ein, daß er einen dummen Streich gemacht habe. »Spät kommst Du, doch Du kommst«, nämlich die Erkenntnis über das theologische Studium. Er will Tübingen verlassen, die Wahl einer Universität ist ihm gleichgültig, weil er für seine Theologie, deren Joch er bis zu Ende (nicht dem aller Dinge, sondern bis zum ersten Examen) tragen will, nirgends viel zu finden hofft. Vielleicht ist er auch jetzt noch einmal zu einer »Umkehr« zu bestimmen. Die Philologie wird sich immer freuen, wenn der lange verlorne Sohn, der sich mit den Trebern der Theologen gemästet hat, zurückkehrt, und die Sprachvergleichung besonders darf schon zu Deussens Ehren ein Kalb schlachten.

Unser philologischer Verein blüht: neulich hat er sich photographieren lassen und Ritschl ein Bild verehrt zu dessen großer Freude. Rohde ist jetzt auch ordentliches Mitglied, ein sehr gescheuter, aber[968] trotziger und eigensinniger Kopf. Bei der Aufnahme von neuen Mitgliedern wirke ich dafür, daß mit möglichster Strenge und Sichtung verfahren wird. Herr von Voigt hat nicht die Ehre gehabt, aufgenommen zu werden.

Die letzten Wochen waren in Leipzig sehr interessant. Der Riedelsche Verein gab in der Nikolaikirche ein Konzert zum Besten der Verwundeten. Das Gedränge war an allen Kirchentüren wie am Theater, wenn die Hedwig Raabe spielte. Wir haben eine Einnahme von mehr als 1000 Talern gehabt. Eine halbe Stunde vor Beginn des Konzertes kam das Telegramm der Thronrede nach Leipzig: ich bin nie über eine Tat unseres Königs so glücklich gewesen, wie über diese versöhnliche, unzweideutige Rede. Die alten Parteilager sind jetzt gänzlich verwüstet, d. h. die extremen Standpunkte. Männer wie Treitzschke und Roggenbach sind plötzlich die Vertreter der allgemeinen Meinung geworden. Ein großer Teil der sogenannten Konservativen, z. B. der Rat Pinder in Naumburg, schwimmt lustig in dem neuen Fahrwasser. Es ist auch für mich – offen gestanden – ein seltner und ganz neuer Genuß, sich ganz einmal im Einklang mit der zeitweiligen Regierung zu fühlen. Zwar muß man verschiedne Tote ruhen lassen, außerdem sich deutlich machen, daß das Bismarcksche Spiel ein überaus kühnes war, daß eine Politik, welche va banque zu rufen wagt, je nach dem Erfolg ebenso verflucht wie angebetet werden kann. Aber der Erfolg ist diesmal da: was erreicht ist, ist groß. Minutenlang suche ich mich einmal von dem Zeitbewußtsein, von den subjektiv natürlichen Sympathien für Preußen loszumachen und dann habe ich das Schauspiel einer großen Haupt- und Staatsaktion, aus solchem Stoff, wie nun einmal die Geschichte gemacht ist, beileibe nicht moralisch, aber für den Beschauer ziemlich schön und erbaulich.

Du wirst wohl die Schrift über die Zukunft der Mittelstaaten von Treitzschke gelesen haben. Mit großer Mühe habe ich sie mir in Leipzig verschafft, wo sie wie überhaupt in Sachsen – proh pudor – verboten war. Dagegen haben unsre Gesinnungsgenossen, die Freitage, die Biedermänner usw. ein Votum der sächsischen liberalnationalen Partei erzielt, das sich für unbedingte Annexion ausspricht. Dies würde auch meinen persönlichen Interessen das dienlichste sein. Hoffentlich ist König Johann starrköpfig genug, Preußen zur Annexion zu zwingen.[969]

Schließlich soll auch Schopenhauer noch erwähnt werden, an dem ich noch mit vollster Sympathie hänge. Was wir an ihm haben, hat mir kürzlich erst eine andere Schrift recht deutlich gemacht, die in ihrer Art vortrefflich und sehr belehrend ist: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung für die Gegenwart von Fr. A. Lange. 1866. Wir haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und Naturforscher vor uns. Sein Resultat ist in folgenden drei Sätzen zusammengefaßt:

  • 1. die Sinnenwelt ist das Produkt unsrer Organisation;
  • 2. unsre sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andern Teilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes;
  • 3. unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns.

Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgendeine Bedeutung hat. Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrtums zeihen? –

Du siehst, selbst bei diesem strengsten kritischen Standpunkte bleibt uns unser Schopenhauer, ja er wird uns fast noch mehr. Wenn die Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym sich vor Schopenhauer verkriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer.

Damit lebe heute wohl, lieber Freund. Überlege Dir's, ob Du nicht nach Leipzig kommen kannst. Jedenfalls aber teile mir mit, wann und wo wir uns treffen können. Denn allzugern möchte ich Dich einmal sehen, was in Leipzig mir nicht zuteil wurde, da Ihr Euch so schnell wieder aus der Umgebung von Leipzig verzöget. Doch habe ich die Musik Deines Regiments gehört, etwas unklassisch, und besonders viel Afrikanerin.[970]

In Pforte bin ich noch nicht gewesen. Volkmann ist glücklich verheiratet. Deine Grüße werde ich treulich ausrichten. Meine Angehörigen lassen sich Dir bestens empfehlen und versichern Dich ihrer Teilnahme. Adieu, lieber Freund,

Dein F.W. Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 967-971.
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