37.
An Erwin Rohde

[1017] [Naumburg, 7. Oktober 1869]


Heil und Segen voran!

Die Überschrift des Briefes zeigt Dir, welche Üppigkeit mir zuteil geworden, heimatliche Wärme und Erinnerungsfülle.

Draußen vor den Fenstern liegt der gedankenreiche Herbst im klaren mildwärmenden Sonnenlichte, der nordische Herbst, den ich so liebe wie meine allerbesten Freunde, weil er so reif und wunschlos-unbewußt ist. Die Frucht fällt vom Baume, ohne Windstoß.

Und so ist es mit der Liebe der Freunde: ohne Mahnung, ohne Rütteln, in aller Stille fällt sie nieder und beglückt. Sie begehrt nichts für sich und gibt alles von sich.

Nun vergleiche die scheußlich-gierige Geschlechtsliebe mit der Freundschaft!

Ich sollte auch meinen, daß jemand, der den Herbst, wenige Freunde und die Einsamkeit wahrhaft liebt, sich einen großen, fruchtbar-glücklichen Lebensherbst prophezeien darf.


»Drum dulde, daß der Parzen eine

Den Herbst mir spinne, lieb und lang

Aus halbverkühltem Sonnenscheine

Und Müßiggang.«


Aber Du weißt, welchen Müßiggang wir meinen: haben wir doch schon zusammen gelebt, als echte scholastikoi d. h. Müßiggänger.

Und was hindert uns, von jenem Lebensherbst zu hoffen, daß er wieder uns so zusammenbringt?

Sei dies denn Wunsch und Hoffnung, ausgesprochen am Gedenktage Deiner Geburt, aber immer und allezeit im Herzen getragen!

Von hier aussuche ich denn die alten Erinnerungsstätten in Leipzig[1017] auf, und Romundt meldet mir freundschaftlichst, daß er bereits dort eingetroffen sei, um mich nicht zu verfehlen. Habe ich Dir geschrieben, daß er meine Einladung angenommen hat, den Anfang des Wintersemesters in Basel zu erleben, und daß wir dort die schwierige Frage seiner Zukunftsstellung mitsammen erledigen wollen. Schreibe mir doch Deine Meinung: wie ich ihn jetzt kenne, nach der schönen Entwicklung des letzten Jahres, halte ich ihn der Aussicht auf einen philosophischen Lehrstuhl durchaus für würdig. Wohlverstanden der Aussicht! Er wird viel zu tun haben, zur systematischen Bewältigung ganzer philosophischer Disziplinen. Und es möchte noch manches Jahr hingehen dürfen.

Übrigens wünsche ich unser Zusammentreffen auch deshalb so sehnlich, weil eine ganze Fülle von ästhetischen Problemen und Antworten seit den letzten Jahren in mir gärt, und mir der Rahmen eines Briefes zu eng ist, um Dir etwas darüber deutlich machen zu können. Ich benütze die Gelegenheit öffentlicher Reden, um kleine Teile des Systems auszuarbeiten, wie ich es z. B. schon mit meiner Antrittsrede getan habe. Natürlich ist mir Wagner im höchsten Sinne förderlich, vornehmlich als Exemplar, das aus der bisherigen Ästhetik unfaßbar ist. Es gilt vor allem kräftig über den Lessingschen Laokoon hinauszuschreiten: was man kaum aussprechen darf, ohne innere Beängstigung und Scham.

Windisch ist nun habilitiert: Brockhausens haben mich in Basel besucht, auch sind wir einen Tag in Tribschen zusammengewesen. Ritschl und Frau haben eine ganz unglaubliche Liebe und Hochschätzung vor mir: was ich Dir verrate, um Dir Freude zu machen. Es sind doch höchst liberale Menschen, mit vieler eigner Kraft: sie ehren sich, wenn sie das Andersartige so unbefangen-freudig gelten lassen.

Und ich sollte mich sehr wundern, wenn Sie nicht auch über Dich so und ähnlich urteilen. Das muß doch das Philologentum empfinden, daß wir gute Freunde sind und unterschiedlich doch von allen anderen. Nicht wahr? Liebster Freund?

F. N.


Bis zum 17ten Okt. bin ich hier. – Die schöne und nützliche Kollation des certamen ist ein rechter Freundschaftsdienst! Gott, daß solche ausgezeichneten Freunde wie Du, Handschriftsklaverei und ähnliche Scheußlichkeiten mir zu Liebe über sich nehmen!![1018]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1017-1019.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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