56.
An Carl von Gersdorff

[1049] [Basel, 18. November 1871]


Verzeihe mir, mein lieber Freund, daß ich Dir nicht früher für Deine Briefe gedankt habe, von denen ein jeder mich an Dein kräftiges Kulturleben erinnert, als ob Du im Grunde noch Soldat seist und Deine militärische Gesinnung jetzt im Bereiche der Philosophie und Kunst zu erweisen trachtetest. Und so ist es recht; nur noch als Kämpfer haben wir gerade in unserer Zeit ein Recht zu existieren, als Vorkämpfer für ein kommendes saeculum, dessen Formation wir an uns, an unsern besten Stunden nämlich, etwa ahnen können: da diese besten Stunden uns doch offenbar dem Geiste unserer Zeit entfremden, aber doch irgendwo eine Heimat haben müssen; weshalb ich glaube, wir haben in diesen Stunden so eine dumpfe Witterung des Kommenden. Haben wir nicht auch aus unserer letzten gemeinsamen Leipziger Erinnerung noch das Gedächtnis an solche entfremdete Momente, die in ein anderes saeculum gehören? – Also – es bleibt dabei: und im Ganzen, Vollen, Schönen resolut zu leben! Aber es gehört eine kräftige Resolution dazu und ist nichts für jedermann!

Heute wurde ich recht an unser Leipziger Dasein gemahnt, und in einem gewissen Sinne kann ich sagen: ich knüpfe ans fröhliche Ende den fröhlichen Anfang nun an, wie das lustige Lied heißt. Heute nämlich, erst heute! antwortete Fritzsch, der treffliche Verleger, auf meinen damaligen Besuch: weshalb ich Dir auch gerade heute Nachricht geben muß. Denn Du und Rohde, Ihr wart es, die mich zu dem trefflichen Fritzsch moralisch und körperlich brachten: was ich bis jetzt noch zu preisen habe. Er konnte nichts dafür, daß seine Antwort sich so lange verschob. Er hatte das Manuskript sofort einem Fachmann zur Beurteilung übersandt, und dieser hat bis zum 16. Nov. getrödelt. Du weißt doch noch, daß das Lied »Lieber Freund, diesen Gruß zum Angebinde« für den 16. Nov. bestimmt war, nämlich zu[1049] Krugs Geburtstag. An diesem gleichen Tage schrieb der gute Fritzsch, »daß mich nicht Ärgernuß nag und schinde«, und verspricht sogar noch bis Weihnachten fertig zu werden. Also die Ausstattung genau nach dem Muster von Wagners »Bestimmung der Oper« ist beschlossen: freue Dich mit mir! Für eine schöne Vignette wird somit ein herrlicher Platz sein: sage dies Deinem künstlerischen Freunde, zugleich mit meinen teilnehmendsten Grüßen. Nimm Dir einmal die Wagnersche Broschüre vor, schlage den Titel auf und berechne Dir die Größe, die wir dem bildnerischen Kunstwerk geben können. Es kommt nur auf den Titel:


Die

Geburt der Tragödie

aus dem Geiste der Musik


von

Dr. Friedrich Nietzsche

Prof. o. p. der klass. Philologie


Leipzig Fritzsch


Ich habe bis jetzt das allerbeste Zutraun: die Schrift wird mächtig gekauft werden und auf ein Stückchen Unsterblichkeit mag sich der Herr Vignettenbildner nur gefaßt machen.

Nun noch etwas Neues. Denke Dir, mein lieber Freund, in welch seltsamer Weise jene erwärmenden Tage meiner Ferienzusammenkunft in mir hinterdrein wieder zum Vorschein gekommen sind. Nämlich in Form einer größeren vierhändigen Komposition, in der alles wiederklingt von einem schönen sonnenwarmen Herbste. Genannt ist das Opus, weil es anknüpft an eine Jugenderinnerung »Nachhall einer Silvesternacht, mit Prozessionslied, Bauerntanz und Mitternachtsglocke«. Das ist doch ein lustiger Titel: man hätte ebensogut zuviel noch erwarten dürfen »mit Punschbowle und Neujahrsgratulationen«. Overbeck und ich spielen sie, es ist jetzt unser Spezifikum, das wir vor allen vierhändigen Menschen voraushaben. Weihnachten wird Frau Wagner mit dieser Musik beschenkt und überrascht. Auch an dieser Komp. seid Ihr, meine lieben Freunde, die unbewußten dei[1050] ex machina! Seit sechs Jahren hatte ich nichts mehr komponiert, und dieser Herbst hat mich wieder stimuliert! Gut ausgeführt, dauert die Musik 20 Minuten.

Im übrigen bin ich wieder in philolog. Tätigkeit, lese »Einleitung in das Studium Platos« und »Latein. Epigraphik« und bereite für die Zeit nach Neujahr 6 öffentl. Vorträge vor »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«.

Nächsten Dienstag hält unser neuer Philosoph seine Antrittsrede, über das »selbstverständliche« Thema: »Die Bedeutung des Aristoteles für die Gegenwart.« – –

Hier bist Du im guten Angedenken. Die Dämonenweihe habe ich bei Jacob Burckhardt, in seiner Stube gefeiert: er hat sich meinem Weiheakte angeschlossen und wir haben reichlich zwei Biergläser guten Rhoneweines auf die Straße geschüttet. In früheren Jahrhunderten wären wir der Zauberei verdächtig. – Als ich damals 1/2 12 nachts nach Hause kam, ziemlich dämonisch, fand ich erstaunterweise Freund Deussen vor, mit dem ich noch bis gegen 2 Uhr auf der Straße herumzog. Mit dem allerfrühsten Zuge reiste er ab. Ich habe eine fast gespenstische Erinnerung an ihn, da ich ihn nur bei mattem Lampen- und Mondeslichte gesehn habe.

Laß bald etwas von Dir hören, mein wackerer werter Freund! Du weißt jetzt, daß es mit der Vign. höchste Zeit ist. Sei herzlich gegrüßt von Deinem

Friedr. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1049-1051.
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