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[1053] [Basel, 31. Dezember 1871]
Mein lieber Freund, herzlichen Dank bin ich Dir schuldig, ebenso für Deinen eingehenden und wohlwollenden Brief als für die Übersendung eines sehr anziehenden Kompositionsfragmentes. Um mit letzterem zu beginnen, so freute ich mich der kontrapunktischen Sicherheit in diesem kanonischen Experiment: das ist ja unsere moderne[1053] Art, die unerhörtesten Kunststücke nur noch scherzoso vorzuführen, etwa wie Wagner in der Prügelszene. Andererseits hat Dein Scherzo für meine Empfindung einen düsteren melancholischen Beigeschmack: wenn ich mir den Klang der Saiteninstrumente hinzudenke, so bekomme ich den Eindruck einer fieberhaften Erregung: rasche wilde Entschlüsse wechseln in unheimlicher Schnelle, und verlangend sehen wir aus nach einem erlösenden Mittelsatz:
Er führet die Freude durch's offene Tor,
Es glänzen die Wolken, es teilt sich der Flor,
Da scheint uns ein Bildchen, ein göttliches, vor –
wie wir im Goetheschen Ergo bibamus sangen. Also, lieber Freund, ein göttliches Bildchen! Die Traurigkeit ist nicht für den Menschen gemacht, sondern für die Tiere, sagt Sancho Pansa. Wenn ihr aber der Mensch allzusehr nachhängt, wird er darüber zum Tier. – Ich vermeide jetzt, so sehr es geht, dieses »Tierische« in der Musik. Auch der Schmerz muß von einer solchen Glorie dithyrambischen Entzückens umflossen sein, daß er darin gewissermaßen ertrinkt: wie ich dies am allergrößten Beispiele, am dritten Akt des Tristan empfinde. Lache so viel Du willst über meinen absurden Rat und Wunsch: ich wünsche und rate Dir etwas mehr Glück – auch in der Musik, und das soll meine Neujahrsgratulation sein.
Ach, wir wissen es beide, mein lieber Freund, wie dumm solch ein Wunsch ist: dieses innere ruhig beseligte Glück, aus dem die Kunst herausströmt, steht nicht in unserer Macht, folgt nicht unseren Wünschen – sondern fällt unerwartet hier und da einmal vom Himmel in unseren Schoß. Möge Dir im neuen Jahr dieses »Hier und da« recht oft zuteil werden! Und möge in specie das ganze Quartett ein Wiederklang solcher Momente sein, ohne allen »tierischen« Beigeschmack oder mit einer so zarten und edlen Dosis, wie sie etwa Dein originelles Fragment in sich trägt. Wenn ich wieder nach Naumburg komme, rechne ich unter meine ersten Freuden, Dein Quartett wirklich einmal zu hören: bis dahin wird es Dir wohl geglückt sein, eine Quartettgesellschaft zusammenzubringen. Man lernt übrigens bei der Ausführung eigner Kompositionen durch andere, was das »Dirigieren« heißen[1054] will. Man bekommt bei dieser eignen Erfahrung erst einen Begriff, wieviel Fehler in der Vortragsweise der einfachsten Musik zu machen sind. Insofern ist es sehr instruktiv, aber auch sehr peinlich und quälend, wie ich es jüngst öfters an meiner vierhändigen Kompos. zu spüren hatte, die mir niemand zu Danke spielen kann.
Um so mehr habe ich die Hoffnung, daß Dir gerade, mein lieber Freund, als dem allein in meine Musikentwicklung wirklich Eingeweihten, ein völliges Verständnis jener Komposition möglich ist, die Du wohl in diesen Tagen kennenlernen wirst. Ich möchte Dich nämlich bitten, meiner Mutter und Schwester, denen ich sie zu Weihnachten gewidmet habe, eine Vorstellung davon zu verschaffen und denke dabei keine Fehlbitte zu tun. Nimm diese Musik möglichst anspruchslos auf; es waren schöne Tage, wie ich sie machte – für mich, aber ich weiß nicht, inwieweit für andere. Oder vielmehr – ich weiß es, nach hiesigen Erfahrungen. Aber es ist nicht sehr glorreich, davon zu reden. Es ist sonderbar, daß die eigne Empfindung sich so schwer übertragen läßt, und was man dann noch an einer solchen Musik perzipiert, ohne diese meine Empfindung, das weiß Gott. Es muß was Seltsames sein, und ich kann mich schlechterdings nicht hineindenken.
Meine Schrift erscheint um Neujahr bei Fritzsch. Dir als einem rechten Melomanen, wird sie natürlich zugeschickt. Oh! Sie ist böse und anstößig. Lies sie verstohlen in Deinem Kämmerlein.
Unserem lieben Freunde Wilhelm folge ich mit teilnehmendster Empfindung und denke in kurzer Zeit Viktoria! über ein neu erlegtes Examenungetüm rufen zu hören. Inzwischen Mut! und Tapferkeit! Und Gesundheit! Und ein kräftiges Schlachtschwert und Schlachtroß für solche Gefährlichkeiten!
Empfiehl mich mit den besten Neujahrswünschen Deinen verehrten Eltern und sei versichert der alten Treue Deines
Freundes Friedr. Nietzsche
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