79.
An Richard Wagner

[1090] Basel, den 18. April 1873


Verehrtester Meister, ich lebe in fortwährendem Angedenken an die Bayreuther Tage dahin, und das viele in kürzester Zeit neu Gelernte und Erfahrene breitet sich in immer größerer Fülle vor mir aus. Wenn Sie nicht zufrieden mit mir bei meiner Anwesenheit schienen, so begreife ich es nur zu gut, ohne etwas daran ändern zu können, denn ich lerne und perzipiere sehr langsam und erlebe dann in jedem Moment bei Ihnen etwas, woran ich nie gedacht habe und was mir einzuprägen mein Wunsch ist. Ich weiß es recht wohl, teuerster Meister, daß Ihnen ein solcher Besuch keine Erholung sein kann, ja mitunter unerträglich sein muß. Ich wünschte mir so oft wenigstens den Anschein einer größeren Freiheit und Selbständigkeit, aber vergebens. Genug, ich bitte Sie, nehmen Sie mich nur als Schüler, womöglich mit der Feder in der Hand und dem Hefte vor sich, dazu als Schüler mit einem sehr langsamen und gar nicht versatilen Ingenium. Es ist wahr, ich werde täglich melancholischer, wenn ich so recht fühle, wie gern ich Ihnen irgendwie helfen, nützen möchte und wie ganz und gar unfähig ich dazu bin, so daß ich nicht einmal etwas zu Ihrer Zerstreuung und Erheiterung beitragen kann.

Oder vielleicht doch einmal, wenn ich das ausgeführt habe, was ich jetzt unter den Händen habe, nämlich ein Schriftstück gegen den berühmten Schriftsteller David Strauß. Ich habe dessen »alten und neuen Glauben« jetzt durchgelesen und mich ebenso über die Stumpfheit und Gemeinheit des Autors wie des Denkers verwundert. Eine schöne Sammlung von Stilproben der abscheulichsten Art soll öffentlich[1090] einmal zeigen, wie es mit diesem angeblichen »Klassiker« steht.

In meiner Abwesenheit ist die Schrift meines Hausgenossen Overbeck »Über die Christlichkeit unserer Theologie« tüchtig vorgerückt, sie hat einen so offensiven Charakter gegen alle Parteien, und ist andererseits so unwiderlegbar und so ehrlich, daß auch er, nach ihrer Veröffentlichung, verfemt sein wird, als einer, nach Prof. Brockhausens Ausdrucke, der »seine Karriere ruiniert hat«. Basel wird allmählich recht anstößig.

Vom Freunde Rohde habe ich mich in Lichtenfels getrennt (in dessen Bahnhofsrestauration Ihre Büste stand). Wir machten am Ostersonntag noch einen Morgenspaziergang miteinander, nach Vierzehnheiligen, das eine Stunde von Lichtenfels entfernt ist. Nicht wahr, ich habe doch vortreffliche Freunde?

Der verehrungswürdigsten Frau Gemahlin schicke ich heute, mit den besten Grüßen, den Paulus von Rénan; die versprochene Schrift von Paul de Lagarde werde ich zusammen mit der Overbeckschen, wenn diese fertig ist, ankommen lassen.

Es tut mir so leid, daß wir den Dekan nicht noch einmal gesehen haben.

Leben Sie wohl! Leben Sie wohl, teuerster Meister, mit Ihrem ganzen Hause.

Ihr getreuer Friedrich Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1090-1091.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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