85.
An Carl von Gersdorff

[1098] [Basel,] 4. Juli 1874


Nun, liebster guter Freund, ich will dir bei aller Sommersonnenglut doch etwas erzählen. Erstens man sehnt sich nach Kühlung. Zweitens man schreibt tüchtig an der Unzeitgemäßen, hoffte bis zu den Ferien fertig zu werden, kann es aber nicht, weil der Körper hinderlich ist und eine kleine Aufmunterung bedarf. Dagegen ist alles[1098] schon im schönen Zusammenhang, es wäre schade, wenn ich's verdürbe oder vergäße. Wahrscheinlich gehe ich mit meiner Schwester etwas ins Engadin. Mit Bayreuth bin ich über den guten Vorsatz nicht hinausgekommen; es scheint mir nämlich, daß sie dort ihr Haus und ihr Leben in Unruhe haben und daß gerade jetzt unser Besuch nicht passen würde. Über mein Befinden sind sie übrigens beruhigt, Ihr habt alle euch in Schwarzseherei überboten. Endlich – ich kann jetzt nichts anderes denken als das Fertigwerden und Gutwerden von Nr. 3. – Wie kamst Du übrigens, lieber Freund, auf den drolligen Einfall, meinen Bayreuther Besuch durch eine Drohung erzwingen zu wollen? Es sieht ja fast so aus, als ob ich freiwillig nicht hingehen möchte – und doch bin ich voriges Jahr zweimal, und vorvoriges Jahr zweimal mit den Bayreuthern zusammengetroffen – von Basel aus, und bei meinen erbärmlichen Ferienverhältnissen! – Wir wissen ja beide, daß Wagners Natur sehr zum Mißtrauen neigt – aber ich dachte nicht, daß es gut sei, dieses Mißtrauen noch zu schüren. Und zu guter Letzt – denke nur daran, daß ich gegen mich selbst Pflichten habe, die sehr schwer zu erfüllen sind, bei einer sehr gebrechlichen Gesundheit. Wirklich, es sollte mich niemand zu etwas zwingen.

Dies alles recht herzlich und menschlich aufzunehmen!

Denke Dir, daß der gute alte Vischer seit ein paar Tagen im Sterben liegt und die Familie um ihn versammelt ist. Du weißt, was ich an ihm verliere. –

Eben meldet man mir den Tod des Appellationsrats Krug, des Vaters meines Freundes. Mein Freund Pinder, ebenso wie Gustav Krug, machen im Herbst Hochzeit – und es blühn die Geschlechter weiter.

Für unsere Zusammenkunft habe ich etwas sehr Schönes – ich bitte Dich aber, auch Deinerseits etwas mitzubringen. Vielleicht die italienischen Übersetzungen!

Doch nur wenn du Zeit und Muße hast, adieu, lieber getreuer Freund.[1099]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1098-1100.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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