88.
An Erwin Rohde

[1103] [Basel, 28. Februar 1875]


Wie gerne hörte ich liebster Freund, wenn auch nur durch ein Wörtchen, daß es Dir befriedigend ergehe. Ich bin neulich einmal durch einen Traum – wenn es Traum war – in eine Beunruhigung geraten. Auch von Bayreuth aus hat man mich gebeten, Nachrichten von Dir zu geben, Du weißt und weißt es doch schwerlich deutlich genug, wie herzlich und warm man dort Deiner gedenkt und wie man sich sorgt. Gegenwärtig ist meine Schwester in Bayreuth und bleibt dort einige Wochen. Ich will auch gleich die Aufforderung von Frau Wagner mitteilen, daß Du doch Dich baldigst und etwas stürmisch an den Bürgermeister von Bayreuth wenden möchtest, um in diesem Sommer dort Quartier zu bekommen; es wird viel Mühe machen, für alle Gäste Unterkommen zu schaffen, und es soll dem Bürgermeister recht zugesetzt werden, weil die Wohnungsfrage noch ganz im argen liegt. Du möchtest doch ja nicht »eine bescheidene Wohnung« verlangen. Meine Schwester bemüht sich für sich und mich etwas zu finden, bis jetzt noch ohne Erfolg.[1103]

Das Semester läuft dem Ende zu, noch drei Wochen gibt es an der Universität, noch fünf an dem Pädagogium. Hier ist alles in großer Erregung, denn die neue Verfassung der Stadt Basel wird jetzt im großen Rate durchberaten, alle Parteien sind in Erbitterung, im Frühjahr entscheidet dann das Volk. (Heute wurde eine Stelle von mir über die Staatsomnipotenz, aus der Nr. 3, mit für den politischen Kampf benutzt; hat mir Spaß gemacht). Unser Pädagogium verliert mit Ostern den alten Gerlach, der endlich pensioniert wird; was aber weiter geschieht, wer möchte es erraten? Man hat bei mir angefragt, ob ich vier latein. Stunden an der obersten Klasse für das nächste Semester übernehmen wolle, ich habe nein gesagt, meiner Augen wegen.

Im ganzen geht es mir gut und recht: mir ist als ob ich zu einem Burgherrn würde, so verschanzt und innerlich unabhängig wird allmählich meine Art zu leben.

Ostern soll die Nr. 4 fertig werden. Daß die französische Übersetzung der Nr. 3 zu Ende geführt und mit einer briefartigen Dedikation an mich versehen sei, habe ich Dir schon erzählt? Gersdorff kommt den 12. des März auf einige Zeit hierher, das weißt Du ebenfalls. –

Nun aber etwas, was Du noch nicht weißt und was Du, als vertrautester und mitfühlendster Freund zu wissen ein Recht hast. Auch wir – Overbeck und ich – haben ein Hausleiden, ein Hausgespenst: falle nicht vom Stuhle, wenn Du davon hörst, daß Romundt einen Übertritt zur katholischen Kirche projektiert und katholischer Priester in Deutschland werden will. Das ist erst neuerlich herausgekommen, ist aber, wie wir nachträglich zu unserem Schrecken hören, schon ein mehrjähriger Gedanke, nur jetzt dem Reifsein so nahe als noch nie. – Ich bin etwas innerlich verwundet dadurch und mitunter empfinde ich es als das Böseste, was man mir antun konnte. Natürlich ist es von Romundt nicht böse gemeint, er hat bis jetzt eben noch keinen Augenblick an etwas anderes als an sich gedacht und der verfluchte Akzent, der dem »Heil der eignen Seele« gegeben wird, macht ihn ganz stumpf gegen alles andre, Freundschaft einbegriffen. Mir und Overbeck war es allmählich rätselhaft geworden, daß R. eigentlich gar nichts mehr mit uns gemein habe und sich an allem, was uns beseelte und ergriff, ärgerte oder langweilte; besonders hat er eine Art[1104] des muckischen Schweigens am Leibe, die uns längst nichts Gutes ahnen ließ. Endlich kam es zu Geständnissen, und jetzt, fast alle drei Tage, zu pfäffischen Explosionen. – Der Ärmste ist in einer verzweifelten Lage und nicht mehr einem Zuspruche zugänglich, das heißt, er wird so von dumpfen Absichten gezogen, daß er uns wie eine wandelnde Velleität vorkommt. – Unsre gute reine protestantische Luft! Ich habe nie bis jetzt stärker meine innigste Abhängigkeit von dem Geiste Luthers gefühlt als jetzt, und allen diesen befreienden Genien will der Unglückliche den Rücken wenden? Ich frage mich, ob er noch bei Verstande ist und ob er nicht mit Kaltwasserbädern zu behandeln ist: so unbegreiflich ist es mir, daß dicht neben mir, nach einem achtjährigen vertrauten Umgange, sich dies Gespenst erhebt. Und zuletzt bin ich es noch, auf dem der Makel dieser Konversion hängen bleibt. Weiß Gott, ich sage das nicht aus egoistischer Fürsorge; aber auch ich glaube etwas Heiliges zu vertreten und ich schäme mich tief, wenn ich dem Verdachte begegne, daß ich irgendwas mit diesem mir grundverhaßten katholischen Wesen zu tun hätte. – Lege Dir diese ungeheuerliche Geschichte nach Deiner Freundschaft zu mir zurecht und sage mir ein paar tröstende Worte. Ich bin gerade im Punkte der Freundschaft verwundet und hasse das unaufrichtige schleichende Wesen vieler Freundschaften mehr als je und werde behutsamer sein müssen. – R. selbst wird sich in irgendeinem Konventikel wohlfühlen, das ist kein Zweifel, aber unter uns leidet er, wie mir jetzt scheint, fortwährend. Ach liebster Freund! Gersdorff hat recht, wenn er oft sagt, »es gibt nirgends Tolleres als in der Welt«. Mit Trauer

Dein Freund Friedrich N., zugleich auch in Overbecks Namen – Verbrenne den Brief, falls Dir gut scheint.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1103-1105.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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