99.
An Erwin Rohde

[1120] Basel, den 23. Mai 1876


Da wollen wir uns denn herzlich miteinander freuen, daß Dein Werk fertig ist, mein geliebter Freund; ich hatte immer meine Besorgnisse, denn ich ahnte, daß es ein mega biblion werde, und wußte, daß es bisher schon in mancher Beziehung ein mega kakon gewesen war. Nun ist es da, überdies in ein schönes Fellchen gehüllt und prangt und ergötzt mich. Es enttäuschte mich gleich in einer sehr angenehmen Weise, denn ich hatte mich ein wenig davor gefürchtet, als ob meine geringe philologische Weisheit auf diesem entlegenen Gebiete sich als völlige Torheit entpuppen werde. Nun merke ich schon so viel, daß ich sehr viel Nutzen von Deinen Ergebnissen (den allgemeinen, wie den gelegentlichen) haben werde und daß ich auch im Zusammenhang über die Griechen genug gedacht habe, um dieses Buch gar nicht mehr entbehren zu können. Ebenso wird es J. Burckhardt gehen, dem ich davon erzählte. (Ich bin jetzt täglich mit ihm zusammen, im vertrautesten Verkehre.) Ich hebe von dem, was ich bis jetzt gelesen, ein paar Sachen her vor, die mir gleich so gut »wie Baumöl« eingingen, z. B. wie sich Roman und Novelle gegeneinander abheben. Dann S. 56 f. über die charakterologischen Studien der Peripatetiker, dann S. 18 (mit der morale di solitari); ein sehr belehrender Abschnitt 4 auf S. 22 ff; dann S. 67 weibliche Leser, S. 121 über die Art von wirklicher Popularität der alexandrinischen Dichter, dann S. 142 (mit Anmerk.) sehr schön über die elegische Erzählungskunst. Aufgefallen ist mir, daß Du von den päderastischen Verhältnissen so wenig sagst: und doch ist das Idealisieren des Eros und das reinere und sehnsüchtigere Empfinden der Liebespassion bei den Griechen zuerst auf diesem Boden gewachsen und wie mir scheint, von da aus auf die geschlechtliche Liebe erst übertragen worden, während es ihre (der geschlechtl. Liebe) zartere und höhere Entwicklung früher geradezu hinderte. Daß die Griechen der älteren Zeit die Männererziehung auf jene Passion gegründet haben und solange sie diese ältere Erziehung hatten, von der Geschlechtsliebe im ganzen mißgünstig gedacht haben, ist toll genug, scheint mir aber wahr zu sein. Auf Seite 70 und 71, glaubte ich, Du würdest an diese Dinge erinnern müssen. Der Eros, als pathos der kalôs scholazontes, in der besten Zeit ist der päderastische:[1120] die Meinung über den Eros, die Du »einigermaßen verstiegen« nennst, nach der das Aphrodisische am Eros nicht wesentlich, sondern nur gelegentlich und akzidentiell ist, die Hauptsache eben philia ist, kommt mir nicht so ungriechisch vor. – Aber es scheint mir, daß Du mit Absicht die ganze Region gemieden hast; auch J. Burckhardt redet im Kolleg nie davon. – Vielleicht übrigens finde ich beim Weiterlesen Deines Buches auch hierüber Winke, ich bin noch nicht weit gekommen: meine Augen sind so schlimm. Du hast viel Sorgfalt auf die Darstellung verwendet; aber ich möchte Dich, den eigentlichen Rohde noch mehr durchhören, selbst mit der Einbuße, daß der Stil nicht so gefeilt wäre; wie ich an dem Overbeckschen Stil meine persönliche Freude habe, trotz allem »Obwohl«. Etwas Schweres, beiläufig gesagt, liegt in der von Dir häufig gebrauchten Zusammenstellung längerer Adjektiva mit Partizipien z. B. »sprudelnd fruchtbares Talent«, »künstlich vermittelndes Verfahren«, »leichtfertig gewandte Arbeit«, »mühsam sorgfältiges Verfahren« (S. 127).

Doch sollte ich über solche Dinge den Mund halten. Aber eine große Verwunderung, mit Maulaufsperren verknüpft, muß ich noch loswerden: was bist Du doch für ein sonderbarer Mensch! In diesen letzten Jahren, so wie sie für Dich leider waren, gerade dies Buch auszuarbeiten – das geht ganz eigentlich über meine Fassungskraft! (Beiläufig, auch über mein Talent, zu jeder Zeit: so etwas könnte ich nicht, wenn ich es auch können wollte.) Der philologische Dämon steckt Dir so im Leibe, daß ich mitunter vor seinem Wüten (in Scharfsinn und unbändiger Gelehrsamkeit) ordentlich schaudere. Ich weiß keinen Menschen, dem ich so etwas zutraute: und daß dieser Erzphilolog dabei noch ein Erzmensch, und zwar mein Erzfreund ist, das ist wahrlich ein ainigma dyslyton, aber davon abgesehn »eine gute Gabe Gottes!«

Lebe wohl mein getreuer Freund


Mit dem Musico Köselitz wollen wir's auf eine andre Weise noch durchsetzen. Overbeck schreibt in diesen Tagen.[1121]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1120-1122.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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