141.
An Franz Overbeck

[1167] [Genua, November 1880]


Du wirst in tiefer Arbeit sein, lieber Freund, aber ein paar Worte von mir werden Dich nicht stören. Es tut mir immer so wohl, Dich in Deiner Arbeit zu denken, es ist wie als ob eine gesunde Naturgewalt gleichsam blindlings durch Dich wirkte, und doch ist es eine Vernunft, die im feinsten und häkelichsten Stoffe arbeitet und an der wir es wohl ertragen müßten, wenn sie sich ungeduldig und zweifelnd und gelegentlich verzweifelnd gebärdete. Ich verdanke Dir so viel, teurer Freund, daß ich dem Schauspiel Deines Lebens so in der Nähe zusehen durfte: in der Tat, Basel hat mir Dein Bild und das Jacob Burckhardts gegeben; ich meine, nicht nur mit der Erkenntnis einen großen Nutzen aus diesen Bildern gezogen zu haben. Die Würde und die Anmut einer eigenen und wesentlich einsiedlerischen Richtung im Leben und Erkennen: dies Schauspiel wurde mir durch die nicht genug zu verehrende Gunst meines Schicksals »ins Haus geschenkt« – und folglich verließ ich dies Haus anders als ich es betrat.

Jetzt ist mein ganzes Dichten und Trachten darauf aus, eine idealische Dachstuben-Einsamkeit zu verwirklichen, bei der alle jene notwendigen und einfachsten Anforderungen meiner Natur, wie viele, viele Schmerzen sie mich gelehrt haben, zu ihrem Rechte kommen. Und vielleicht gelingt es mir! Der tägliche Kampf gegen mein Kopfübel und die lächerliche Mannigfaltigkeit meiner Notzustände erfordert[1167] eine solche Aufmerksamkeit, daß ich Gefahr laufe, dabei kleinlich zu werden – nun, es ist das Gegengewicht gegen sehr allgemeine, sehr hochfliegende Triebe, die mich so beherrschen, daß ich ohne große Gegengewichte zum Narren werden müßte. Eben habe ich mich von einem sehr bitterbösen Anfalle erhoben, und kaum ist die Not zweier Tage abgeschüttelt, so läuft meine Narrheit schon wieder ganz unglaublichen Dingen nach, vom frühsten Erwachen an, und ich glaube nicht, daß irgendwelchen Dachstubenbewohnern die Morgenröte lieblichere und wünschbarere Dinge beleuchtet hat. Hilf mir diese Verborgenheit festzuhalten, verleugne meine Existenz in Genua, – für eine gute Spanne Zeit muß ich ohne Menschen und inmitten einer Stadt, deren Sprache ich nicht kenne, leben, muß ich – ich wiederhole es; fürchte nichts für mich! Ich lebe, wie als ob die Jahrhunderte ein Nichts wären und gehe meinen Gedanken nach, ohne an das Datum und die Zeitungen zu denken.

Ich will auch mit den Bestrebungen des jetzigen »Idealismus«, zumal des deutschen, nichts mehr zu tun haben. – Tun wir alle unsre Arbeit, die Nachwelt mag dann uns so und so in Ordnung stellen, oder sie mag es auch nicht tun: nur will ich mich frei fühlen und nicht ja! und nicht nein! sagen müssen, z.B. zu solchem echt-idealistischen Büchlein, wie das ist, welches ich Dir mitsende. Es ist das letzte, was ich vom jetzigen »deutschen Geiste« kennen lernen will – ebenso rührend als anmaßend als unsäglich geschmacklos: lies es nur einmal, mit Deiner Frau zusammen, versteht sich! Und dann verbrennt es und lest zur Reinigung von diesem deutschen Schwulste Plutarchs Leben des Brutus und des Dion. – Lebe wohl, lieber Freund! Habe ich Dir denn zu Deinem Geburtstag gratuliert? Nein. Aber mir habe ich dazu gratuliert. In Liebe der Deine.

Genova, poste restante.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1167-1168.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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