145.
An Franz Overbeck

[1171] [Poststempel: Sils Engd., 30. Juli 81]


Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine »Instinkthandlung«. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntnis zum mächtigsten Affekt zu machen –, in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in[1171] dem Unterschiede der Zeit, der Kultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Atemnot machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. – Wunderlich!

Übrigens ist mein Befinden gar nicht meinen Hoffnungen entsprechend. Ausnahmewetter auch hier! Ewiges Wechseln der atmosphärischen Bedingungen! – das treibt mich noch aus Europa! Ich muß reinen Himmel monatelang haben, sonst komme ich nicht von der Stelle. Schon sechs schwere, zwei- bis dreitägige Anfälle!! – In herzlicher Liebe Euer Freund.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1171-1172.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
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Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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