158.
An Peter Gast

[1185] Tautenburg, Dienstag, 25. Juli 1882


Mein lieber Freund, so soll ich denn auch meine Sommer-Musik haben! – auf diesen Sommer strömen die guten Dinge herab, wie als ob ich einen Sieg zu feiern hätte. Und in der Tat: erwägen Sie, wie ich seit 1876 in mancherlei Betracht, des Leibes und der Seele, ein Schlachtfeld mehr als ein Mensch gewesen bin! –

Lou wird der Klavierpartie nicht gewachsen sein: aber da stellt sich, wie vom Himmel geschickt, im rechten Augenblick Herr Egidi ein, ein ernster, vertrauenswürdiger Mensch und Musiker, der gerade hier in Tautenburg weilt (ein Schüler Kiels); – durch einen Zufall komme ich ein halbes Stündchen mit ihm in Berührung, und wieder ein Zufall war es, daß er, von dieser Begegnung nach Hause kommend, den Brief eines Freundes vorfindet, der so beginnt: »Ich habe soeben einen famosen Philosophen entdeckt, Nietzsche.« –

Sie bleiben natürlich der Gegenstand der äußersten Diskretion; eingeführt als italienischer Freund, dessen Name ein Geheimnis ist.

Ihre melancholischen Worte »immer daran vorbei« sind mir sehr im Herzen hängengeblieben! Es gab Zeiten, wo ich ganz dasselbe von mir dachte; aber es gibt zwischen Ihnen und mir außer anderen Unterschieden auch den, daß ich mich mehr zu etwas »schubsen» lasse (wie man in Thüringen sagt). –

Sonntags war ich in Naumburg, um meine Schwester ein wenig noch auf den Parsifal vorzubereiten. Da ging es mir seltsam genug!

Schließlich sagte ich: »Meine liebe Schwester, ganz diese Art Musik habe ich als Knabe gemacht, damals als ich mein Oratorium machte« – und nun habe ich die alten Papiere hervorgeholt und, nach langer Zwischenzeit, wieder abgespielt: die Identität von Stimmung und Ausdruck war märchenhaft! Ja, einige Stellen, z. B. »Der Tod der Könige«,[1185] schienen uns beiden ergreifender als alles, was wir uns aus dem P. vorgeführt hatten, aber doch ganz parsifalesk! Ich gestehe: mit einem wahren Schrecken bin ich mir wieder bewußt geworden, wie nahe ich eigentlich mit Wagner verwandt bin. – Später will ich Ihnen dieses kuriose Faktum nicht vorenthalten, und Sie sollen die letzte Instanz darüber sein – die Sache ist so seltsam, daß ich mir nicht recht traue. – Sie verstehen mich wohl, lieber Freund, daß ich damit den Parsifal nicht gelobt haben will!! – Welche plötzliche décadence! Und welcher Cagliostrizismus! –

Eine Bemerkung Ihres Briefes gibt mir Anlaß, festzustellen, daß alles, was Sie jetzt von meinen Reimereien kennen, vor meiner Bekanntschaft mit Lou entstanden ist (wie auch die »Fröhliche Wissenschaft«). Aber vielleicht haben Sie auch ein Gefühl davon, daß ich, sowohl als »Denker« wie als »Dichter«, eine gewisse Vorahnung von L. gehabt haben muß? Oder sollte »der Zufall«? Ja! Der liebe Zufall!

Die comédie soll von uns zusammen gelesen werden; meine Augen sind jetzt allzusehr schon okkupiert. L. kommt am Sonnabend. Senden Sie Ihr Werk schnellstens ab, – ich beneide mich selber um diese Auszeichnung, die Sie mir erweisen!

Ganz von Herzen Ihr dankbarer Freund

Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1185-1186.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden