176.
An Franz Overbeck

[1204] [Aus Genua, am 24. März 1883 erhalten]


Mein lieber Freund, mir ist zumute, als hättest Du mir lange nicht geschrieben. Aber vielleicht täusche ich mich, die Tage sind so lang, ich weiß gar nicht mehr, was ich mit einem Tage anfangen soll: es fehlen mir alle »Interessen«. Im tiefsten Grunde eine unbewegliche schwarze Melancholie. Im übrigen Müdigkeit. Zumeist zu Bett; auch ist es das Vernünftigste für die Gesundheit. Ich war recht mager geworden, man wunderte sich; jetzt habe ich eine gute trattoria und will mich schon wieder herausfüttern. Aber das Schlimmste ist: ich begreife gar nicht mehr, wozu ich auch nur ein halbes Jahr leben soll, alles ist langweilig, schmerzhaft, degoutant. Ich entbehre und leide zuviel und habe einen Begriff von der Unvollkommenheit, den Fehlgriffen und den eigentlichen Unglücksfällen meiner ganzen geistigen Vergangenheit, der über alle Begriffe ist. Es ist nichts mehr gutzumachen; ich werde nichts Gutes mehr machen. Wozu noch etwas machen! –

Das erinnert mich an meine letzte Torheit, ich meine den »Zarathustra« (Ist es jetzt deutlich zu lesen? Ich schreibe wie ein Schwein). Es passiert mir alle paar Tage, daß ich es vergesse; ich bin neugierig, ob es irgendeinen Wert hat – ich selber bin in diesem Winter unfähig des Urteils und könnte mich im allergröbsten Sinne über Wert und Unwert täuschen. Übrigens höre und sehe ich nichts davon: äußerste Schnelligkeit war meine Bedingung des Drucks. Nur meine allgemeine Müdigkeit hat mich Tag für Tag verhindert, den ganzen Druck abzutelegraphieren; ich warte mehr als vier Wochen auf Korrekturbogen, es ist unanständig, mich so zu behandeln. Aber wer ist denn noch anständig gegen mich! So nehme ich's denn hin. –[1204] Der Winter verzögert sich dies Jahr um ein, zwei Monate. Sonst würde ich dran denken können, bald etwas in die Berge zu gehen und Höhenluft zu versuchen. Genua ist nicht das Rechte für mich; so findet Dr. Breiting.

Ich bin auch noch keinen Schritt spazieren gewesen. Die Nächte schwitze ich. Der tägliche Kopfschmerz ist milder geworden, aber immer noch regelmäßig.

Ich habe neulich Liebermeisters im Hôtel de Gênes besucht; sie sind jetzt in Santa Margherita.

Hoffentlich bist Du mit Deiner lieben Frau in guter Stimmung, das Leben ist Euch wahrlich nicht mißraten, ich denke mit Vergnügen daran.

Dein Freund F. N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1204-1205.
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