197.
An Franziska Nietzsche und Elisabeth Nietzsche

[1230] Nizza, 21. März 1885, Sonnabend


Endlich, meine Lieben, das will sagen: seit einer Stunde kann ich Euch Nachricht und Aufschluß darüber geben, was ich dieses Frühjahr tun will. Zürich ist nämlich, durch eine plötzliche Entschließung von Hrn. Gast, aus dem Programm gestrichen worden; er meldet[1230] mir heute morgen, daß er es daselbst absolut nicht mehr aushalte und auf dem Wege nach Venedig sei. Nun habe ich ein Zusammentreffen mit Hr. G. auf Grund gemeinsamer Pläne jetzt nötig; auch ist Venedig für meinen gegenwärtigen Zustand der Augen die wohltätigste aller Städte –: genug, ich bin sehr erfreut über diese Wendung, welche mir die Reise nach Zürich erspart.

Dem armen G. ist es mit Zürich ergangen, wie mir seinerzeit (das will sagen ungefähr 10 Jahre meiner Jugend!) mit Basel: das Klima dieser Städte ist ein Widerspruch mit unsern produktiven Fähigkeiten, und diese beständige Qual macht uns krank. Nach der Seite hin war Basel ein ganz großes Unglück für mich: noch heute leide ich an der schrecklichen Nachwirkung dieser Zeit (und werde nicht mehr davon loskommen).

Man wird tüchtig für seine Unwissenheit bestraft: hätte ich mich zur rechten Zeit mit medizinischen, klimatischen und dergleichen Problemen beschäftigt, statt mit Theognis und Laertius Diogenes: ich wäre kein halb-zugrunde-gerichteter Mensch. – –

Und so verliert man seine Jugend, und ist nun schon über 40 hinaus, und immer noch in den ersten Experimenten über das, was man nötig hat, und spätestens seit 20 Jahren haben sollte.

Ihr seht, ich bin wieder heiterer; der wesentlichste Umstand ist wohl der, daß Herr Lanzky fort ist. Ein sehr achtungswürdiger Mensch und mir sehr zugetan – aber was liegt mir an dem beiden! Er bedeutete für mich das, was ich »bedecktes Wetter«, »deutsches Wetter« und dergleichen nenne. Es lebt übrigens jetzt niemand, an dem mir viel gelegen wäre; die Menschen, die ich gerne habe, sind lange, lange tot, z. B. der Abbé Galiani oder Henry Beyle oder Montaigne.

Über die Zukunft meiner Schwester mache ich mir meine Gedanken: das will sagen, ich glaube nicht recht an ein Zurückkehren des Hrn. Dr. Förster nach Paraguay. Europa ist gar nicht so klein, und wenn man nicht in Deutschland leben will (worin ich ihm gleichgeartet bin), so braucht man noch lange nicht so weit zu gehn. Zum Enthusiasmus für »deutsches Wesen« habe ich's freilich noch wenig gebracht, noch weniger aber zum Wunsche, diese »herrliche« Rasse gar rein zu erhalten. Im Gegenteil, im Gegenteil –

Pardon, Ihr seht, wie heiter ich bin. Vielleicht, daß wir uns dies[1231] Jahr wiedersehn. Aber nicht in Naumburg: Ihr wißt, es bekommt mir schlecht, und der Ort hat nichts in meinem Herzen, was für ihn spricht. Ich bin dort nicht »geboren« und niemals »heimisch« geworden.

Nizza ist diesen Winter ausnahmsweise weniger hell und trocken. Vor Ende März werde ich aber schwerlich wegkönnen.

Euch in Liebe zugetan

F.


Ich vergaß, mich für Deinen Brief, meine liebe Mutter, der sich mit dem meinen gekreuzt hat, zu bedanken. Es ist mir nicht in den Sinn gekommen, etwas »übel zu nehmen« – – im Gegenteil!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1230-1232.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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