208.
An Franziska Nietzsche

[1246] Nizza, 22. Dezember 1886

Pension de Genève, petite rue St. Etienne


Meine liebe Mutter. Schnell einen Gruß an Dich zum Weihnachtsfeste: obwohl es gerade schlimm mit den Augen steht und der Tag ihnen schon viel Arbeit gebracht hat. Herzlichen Dank für Deinen Brief; ich wiederhole was ich im letzten Briefe an Dich ausdrückte. – Denke Dir etwas für die Bescherung aus, das Du gerne gerade von mir hättest. Inzwischen fand ich in den Taschen des Überziehers auch die Wasch-Handschuhe, für die ich mich noch nicht bedankt habe.

Neue Nachrichten aus Paraguay habe ich nicht; die Zeitungen haben viel von der Cholera in Rosario geredet, ebenso in Argentinien, doch soll es jetzt zurückgehn. Ich fürchte, daß diese Krankheit den Unternehmungen Försters einen Stein in den Weg legt, mindestens alles verlangsamt; denn die Einwanderung stockt natürlich, wenn die Cholera im Lande ist. Vielleicht ist aber eine Verlangsamung in diesem Falle das geringste Unglück; mir schien es, daß sie zu schnell und ohne rechte Lehrzeit sich auf so große Unternehmungen eingelassen haben. – Frl. v. Meysenbug schrieb auf das liebenswürdigste aus Rom an mich; sie hatte bisher noch gar keine Nachricht von Lisbeth. Gestern langte auch ein Brief des Frl. v. Salis an, sie betrachtet es »als eine der segensvollsten Fügungen ihres Lebens, meine Philosophie und mich kennengelernt zu haben«. Sie sandte einen Artikel über mich mit, der in der Zürcher Zeitung gestanden hat, von jenem Dr. Welti. Sehr ehrfurchtsvoll. Der arme Freund Gast hat sich in München jämmerlich befunden und nichts für seine Aufführung erreicht,[1246] die Sache geht mir sehr nah. Jetzt wird er sich wieder nach Venedig zurückziehn, aber wie enttäuscht! wie verbittert! wie mißhandelt und gedemütigt! Und das ist ein Mensch, der ein unsterbliches Werk geschaffen hat! Nun, ich selber habe diese ganze Geschichte auch erlebt und durchgemacht, im schönen Jahre 1882. Wenn man das Zeug dazu hat, geht man nicht dran zugrunde, und zuletzt ist die Geschichte so alt wie die Welt steht. – Für das neue Jahr bin ich recht im Ungewissen, denn es gibt gar keinen Ort mehr, wo ich mich von mir selber etwas erholen kann. Mit Sils-Maria ist es zu Ende, von wegen des Zimmers und der Augen; Venedig hat mir jedesmal schlecht getan. Auch hier fehlt es mir eigentlich an allem, ich habe gegen 30 Wohnungen angesehn, aber nichts gefunden, was recht wäre. Ich bin nicht reich genug für diese ganze Riviera, auch nicht für das Engadin: während meine Gesundheit mir gar keine Wahl läßt. Da bist Du, meine liebe gute Mutter, besser dran! Du hast Dein gutes zufriedenes Nest, in dem der Vogel Ruhe hat. Mit den herzlichsten Wünschen, daß es so auch im neuen Jahre bleibe,

Dein alter Sohn F.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1246-1247.
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Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden