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[1247] [Poststempel: Nizza, 9. Januar 1887]
Lieber Freund, meine Karte ist kurz vor dem Eintreffen Deines Briefes abgegangen; für letzteren herzlichen Dank! Hoffentlich verbessert sich Deine Gesundheit unter der guten Pflege, die Du hast; gerade bei Augenleiden scheint mir es am wenigsten gut zu sein, »daß der Mensch allein ist«. Der Winter ist hart, auch hier; statt Schnee haben wir tagelangen Regen, die näheren Berge sind seit längerer Zeit weiß (was in der bunten und farbensatten Landschaft wie eine Koketterie der Natur aussieht –). Zu dieser »Buntheit« gehören auch meine blauen Finger, nach wie vor, insgleichen meine schwarzen Gedanken. Eben lese ich, mit solcherlei Gedanken, den Kommentar des Simplicius zu Epiktet: man hat in ihm das ganze philosophische Schema klar vor sich, auf welches sich das Christentum eingezeichnet hat: so daß dies Buch eines »heidnischen« Philosophen den denkbar christlichsten Eindruck macht (abgerechnet, daß die ganze christliche[1247] Affekten-Welt und Pathologie fehlt, »Liebe«, wie Paulus von ihr redet, »Furcht vor Gott« usw.). Die Fälschung alles Tatsächlichen durch Moral steht da in vollster Pracht; erbärmliche Psychologie; der Philosoph auf den »Landpfarrer« reduziert. – Und an alledem ist Plato schuld! er bleibt das größte Malheur Europas! –
Dein N.
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