217.
An Peter Gast

[1259] Sils-Maria, Montag [18. Juli 1887]


Lieber Freund, eine sofortige Antwort auf Ihren Brief, der eben zur Tür hereinspaziert ist, bei großem Regenwetter, welches mit seinem[1259] sanften Dunkel mir gar nicht unerquicklich scheint. Vielleicht haben Sie es in Venedig auch – und sind damit den Alpdruck ein wenig los, den der Sommer auf die Seele legt. Sie haben recht, ich sollte recht erkenntlich für meine kühle Sommer-Residenz sein (dies Jahr habe ich selbst hier oben gelegentlich an Schwüle gelitten, – was müssen Sie Ärmster ausstehen!). Sonst, glauben Sie mir, mit einem gesunden Leibe kommt man über alles hinweg, und mit einem kranken ist nichts gut, und die besten Geschenke des Himmels werden kalt und traurig beiseite gelegt. Eine physiologische Hemmung, die mir, ohne jede Übertreibung, seit Jahresfrist nicht einen guten Tag gegeben hat und sich in Form von allerlei Kleinmut, Verwundbarkeit, Mißtrauen, Arbeitsunfähigkeit wie eine schwere seelische Erkrankung ausnimmt, so bestimmt ich auch die Physis als die Schuldige weiß und anklage – das ist eine Misère, mit der ein guter Gott Ihr Leben, lieber Freund, verschont hat. Zuletzt will ich billig sein und eine wesentliche Veränderung seit 8 Tagen ungefähr zugestehn, – doch ist mein Mißtrauen so tief und die ganz schlimmen Anfalls-Tage immer noch so häufig, daß es mich dünkt, es könne morgen wieder ganz beim alten sein. –

Diese besseren Tage habe ich sofort vehement ausgenutzt und eine kleine Streitschrift abgefaßt, die das Problem meines letzten Buchs, wie mir scheint, recht vor die Augen bringt: – alle Welt hat sich beklagt, daß man »mich nicht verstehe«, und die verkauften ca. 100 Exemplare gaben mir's recht handgreiflich zu verstehn, daß man mich nicht verstehe. Denken Sie, ich habe ca. 500 Taler Druckkosten in den letzten 3 Jahren gehabt – kein Honorar, wie sich von selbst versteht – und dies in meinem 43. Jahre, nachdem ich 15 Bücher herausgegeben habe! Mehr noch: nach genauer Revue aller überhaupt in Betracht kommenden Verleger und vielen äußerst peinlichen Verhandlungen ergibt sich als strenges Faktum, daß kein deutscher Verleger mich will (selbst wenn ich kein Honorar beanspruche). – Vielleicht bringt es diese kleine Streitschrift zuwege, daß man ein paar Exemplare meiner älteren Schriften kauft (aufrichtig, es tut mir immer weh, wenn ich an den armen Fritzsch denke, auf dem nun die ganze Last hockt). Mag's also meinen Verlegern zugute kommen: ich für meine allereigenste Person weiß nur zu genau, daß es mir nicht zugute kommt, wenn man anfängt, mich zu verstehen ...[1260]

Overbeck schrieb, daß er die Vorreden hintereinander wie »die spannendste Odyssee im Reich des Gedankens« gelesen habe. – Marie Rothpletz verheiratet sich mit einem Major a.D. von der Marck (dessen Schwester mir von Nizza her als sehr gute Tischnachbarin im Gedächtnis ist).

Komisches Hin und Her, Briefe und Anfragen zwischen Weimar und den dortigen Goetheforschern und unsrer Familie. Man hat nämlich »entdeckt«, wer das »Muthgen« (eines der Rätsel des Goetheschen Tagebuchs) ist: der Archivrat Burkhardt hat es sogar schon drucken lassen – nämlich meine Großmutter. Nun habe ich diesen Herren den Streich gespielt, etwas dagegen zu stellen: »es schiene mir unwahrscheinlich, daß ›Muthgen‹ (Erdmuthe Krause) 1778 ›dem jungen Dichter befreundet gewesen‹ sei«, weil – ... Muthgen erst im Dezember des genannten Jahres das Licht der Welt erblickt habe! Große Bestürzung. Nun vermutet man, es müsse die Mutter von »Muthgen« sein. Die Beziehungen zu »Goethens« stehn übrigens außer allem Zweifel. Daß der Bruder Muthgens, der Prof. theol. Krause in Königsberg, nach Weimar berufen wurde als Nachfolger Herders (als Generalsuperintendent des Landes), war Goethes Werk.

Lieber Freund, es wird nicht nur gedruckt, bei Naumann, es wird auch gestochen, bei Fritzsch: fühlen Sie den Stich? ... Zum mindesten werden Sie ihn bald sehn.

Aber seien Sie doch so engelhaft (wie die Dönhoff zu sagen pflegte) und schicken Sie, was zu schicken ist, an Bülow ... alter Freund – bitte –

Kuriosum anbei: Dr. Widmann vom »Bund« hat mir geschrieben, enthusiastisch; auch von Brahms, mit dem er zusammen ist (letzterer »lebhaft interessiert von Jenseits«, jetzt im Begriff, sich Fröhliche Wissenschaft zu Gemüte zu führen). – Sollte ich in dieser Richtung etwas für den Löwen von Venedig tun können??? Fragezeichen.

Treulich Ihr N.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1259-1261.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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