225.
An Georg Brandes

[1271] Nizza, den 2. Dezember 1887


Verehrter Herr, ein paar Leser, die man bei sich selbst in Ehren hält und sonst keine Leser – so gehört es in der Tat zu meinen Wünschen. Was den letzten Teil dieses Wunsches angeht, so sehe ich freilich immer mehr, daß er unerfüllt bleibt. Um so glücklicher bin ich, daß zum satis sunt pauci mir die pauci nicht fehlen und nie gefehlt haben. Von den Lebenden unter ihnen nenne ich (um solche zu nennen, die Sie kennen werden) meinen ausgezeichneten Freund Jacob Burckhardt, Hans von Bülow, H. Taine, den Schweizer Dichter Keller; von den Toten den alten Hegelianer Bruno Bauer und Richard Wagner. Es macht mir eine aufrichtige Freude, daß ein solcher guter Europäer und Kultur-Missionar, wie Sie es sind, fürderhin unter sie gehören will; ich danke Ihnen vom ganzen Herzen für diesen guten Willen.

Freilich werden Sie dabei Ihre Not haben. Ich selber zweifle nicht daran, daß meine Schriften irgendworin noch »sehr deutsch« sind: Sie werden das freilich viel stärker empfinden, verwöhnt, wie Sie sind, durch sich selbst, ich meine durch die freie und französisch anmutige[1271] Art, mit der Sprache umzugehen (eine geselligere Art im Vergleich zu der meinen). Viele Worte haben sich bei mir mit anderen Salzen inkrustiert und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern: das kommt hinzu. In der Skala meiner Erlebnisse und Zustände ist das Übergewicht auf Seiten der seltneren, ferneren, dünneren Tonlagen gegen die normalen mittleren. Auch habe ich (als alter Musikant zu reden, der ich eigentlich bin) ein Ohr für Viertelstöne. Endlich – und das wohl am meisten macht meine Bücher dunkel – es gibt in mir ein Mißtrauen gegen Dialektik, selbst gegen Gründe. Es scheint mir mehr am Mute, am Stärkegrade seines Mutes gelegen, was ein Mensch bereits für »wahr« hält oder noch nicht ... (Ich habe nur selten den Mut zu dem, was ich eigentlich weiß.)

Der Ausdruck »aristokratischer Radikalismus«, dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe.

Wie weit mich diese Denkweise schon in Gedanken geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird – ich fürchte mich beinahe, mir dies vorzustellen. Aber es gibt Wege, die es nicht erlauben, daß man sie rückwärts geht, und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts muß.

Damit ich meinerseits nichts versäume, was Ihnen den Zugang zu meiner Höhle, will sagen Philosophie, erleichtern könnte, soll mein Leipziger Verleger Ihnen meine früheren Schriften en bloc übersenden. Ich empfehle insonderheit, deren neue Vorreden zu lesen (sie sind fast alle neu herausgegeben). Diese Vorreden möchten, hintereinander gelesen, vielleicht etwas Licht über mich geben, vorausgesetzt, daß ich nicht dunkel an sich (dunkel an und für mich –) bin, als obscurissimus obscurorum virorum ...

– Dies wäre nämlich möglich. –

Sind Sie Musiker? Soeben gibt man ein Chorwerk mit Orchester von mir heraus, einen »Hymnus an das Leben«. Derselbe ist bestimmt, von meiner Musik übrigzubleiben und einmal »zu meinem Gedächtnis« gesungen zu werden; angenommen, daß sonst genug von mir übrig bleibt. Sie sehen, mit was für posthumen Gedanken ich lebe. Aber eine Philosophie wie die meine, ist wie ein Grab – man lebt nicht mehr mit. Bene vixit qui bene latuit – so steht auf dem Grabstein des Descartes. Eine Grabschrift, kein Zweifel![1272]

Es ist auch mein Wunsch, Ihnen einmal zu begegnen.

Ihr Nietzsche


NB. Ich bleibe diesen Winter in Nizza. Meine Sommer-Adresse ist: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz. – Meine Universitäts-Professur habe ich aufgegeben. Ich bin dreiviertel blind.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1271-1273.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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