228.
An Reinhart von Seydlitz

[1276] Nizza, Pension de Genève,

den 12. Februar 1888


Lieber Freund, das war kein »stolzes Schweigen«, das mir inzwischen den Mund fast gegen jedermann verbunden hat, vielmehr ein sehr demütiges, das eines Leidenden, der sich schämt zu verraten, wie sehr er leidet. Ein Tier verkriecht sich in seine Höhle, wenn es krank ist; so tut es auch la bête philosophe. Es kommt so selten noch eine freundschaftliche Stimme zu mir. Ich bin jetzt allein, absurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirdischen Kampfe gegen alles, was bisher von den Menschen verehrt und geliebt worden ist (– meine Formel dafür ist »Umwertung aller Werte«), ist unvermerkt aus mir selber etwas wie eine Höhle geworden – etwas Verborgenes, das man nicht mehr findet, selbst wenn man ausginge, es zu suchen. Aber man geht nicht darauf aus ... Unter uns gesagt, zu dreien – es ist nicht unmöglich, daß ich der erste Philosoph des Zeitalters bin, ja vielleicht noch ein wenig mehr, irgend etwas Entscheidendes und Verhängnisvolles, das zwischen zwei Jahrtausenden steht. Eine solche absonderliche[1276] Stellung büßt man beständig ab – durch eine immer wachsende, immer eisigere, immer schneidendere Absonderung. Und unsre lieben Deutschen! ... In Deutschland hat man es, obwohl ich im 45. Lebensjahr stehe und ungefähr fünfzehn Werke herausgegeben habe (– darunter ein non plus ultra, den Zarathustra –), auch noch nicht zu einer einzigen auch nur mäßig achtbaren Besprechung auch nur eines meiner Bücher gebracht. Man hilft sich jetzt mit den Worten: »exzentrisch«, »pathologisch«, »psychiatrisch«. Es fehlt nicht an schlechten und verleumderischen Winken in bezug auf mich; es herrscht ein zügellos feindseliger Ton in den Zeitschriften, gelehrten und ungelehrten, – aber wie kommt es, daß nie jemand dagegen protestiert? daß nie jemand sich beleidigt fühlt, wenn ich beschimpft werde? – Und Jahrelang kein Labsal, kein Tropfen Menschlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe –

Unter diesen Umständen muß man in Nizza leben. Es wimmelt auch diesmal von Nichtstuern, grecs und anderen Philosophen, es wimmelt von »Meinesgleichen«: und Gott läßt, mit dem ihm eigenen Zynismus, gerade über uns seine Sonne schöner scheinen, als über das so viel achtbarere Europa des Herrn von Bismarck (– das mit fieberhafter Tugend an seiner Bewaffnung arbeitet und ganz und gar den Aspekt eines heroisch gestimmten Igels darbietet). Die Tage kommen hier mit einer unverschämten Schönheit daher; es gab nie einen vollkommneren Winter. Und diese Farben Nizzas: ich möchte sie Dir schicken. Alle Farben mit einem leuchtenden Silbergrau durchgesiebt; geistige, geistreiche Farben; nicht ein Rest mehr von der Brutalität der Grundtöne. Der Vorzug dieses kleinen Stücks Küste zwischen Alassio und Nizza ist eine Erlaubnis zum Afrikanismus in Farbe, Pflanze und Lufttrockenheit: das kommt im übrigen Europa nicht vor.

O wie gern säße ich mit Dir und Deiner lieben verehrten Frau zusammen unter irgendeinem homerisch-phäakischen Himmel ... aber ich darf nicht mehr südlicher (– die Augen zwingen mich bald zu nördlicheren und stupideren Landschaften). Schreibe mir, bitte, noch einmal über die Zeit, wo Du wieder in München bist, und vergib mir diesen düsteren Brief!

Dein getreuer Freund Nietzsche
[1277]

Seltsam! Ich habe drei Tage Deine Ankunft hier im Hotel erwartet. Es war Besuch aus München angemeldet, man wollte mir nicht sagen, wer; man machte zwei Plätze neben mir bei Tisch frei – Enttäuschung! Es waren alte Spieler und Montecarlisten, welche mir zuwider sind ...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1276-1278.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden