230.
An Peter Gast

[1280] Nizza, Pension de Cenève,

26. Febr. 1888


Lieber Freund, trübes Wetter, Sonntag Nachmittag, große Einsamkeit: ich weiß nichts Angenehmeres mir zu erfinden, als etwas zu und mit Ihnen zu reden. Eben merke ich, daß die Finger blau sind: meine Schrift wird nur dem errätlich sein, der die Gedanken errät ...

Was Sie über den Stil Wagners in Ihrem Briefe sagen, erinnert mich an eine eigne irgendwo geschriebene Auslassung darüber: wie sein »dramatischer Stil« nichts weiter ist als eine Spezies des schlechten Stils, ja sogar des Nicht-Stils in der Musik. Aber unsre Musiker sehn darin einen Fortschritt ... Eigentlich ist alles ungesagt, ja wie ich argwöhne, fast ungedacht auf diesem Bereiche von Wahrheiten: Wagner selber, als Mensch, als Tier, als Gott und Künstler geht tausendfach über den Verstand und Unverstand unsrer Deutschen hinaus. Ob auch über den der Franzosen? –

Ich hatte heute das Vergnügen, mit einer Antwort recht zu bekommen, wo schon die Frage außerordentlich hasardiert scheinen konnte: nämlich – »wer war bisher am besten vorbereitet für Wagner? wer war am naturgemäßesten und innerlichsten wagnerisch, trotz und ohne Wagner?« – Darauf hatte ich mir seit lange gesagt: das war jener bizarre Dreiviertels-Narr Baudelaire, der Dichter der Fleurs du Mal. Ich hatte es bedauert, daß dieser grundverwandte Geist Wagnern nicht bei Lebzeiten entdeckt habe; ich habe mir die Stellen seiner Gedichte angestrichen, in denen eine Art Wagnerscher Sensibilität ist, welche sonst in der Poesie keine Form gefunden hat (– Baudelaire ist libertin, mystisch, »satanisch«, aber vor allem wagnerisch). Und was muß ich heute erleben! Ich blättere in einer jüngst erschienenen Sammlung von Oeuvres posthumes dieses in Frankreich aufs tiefste geschätzten und selbst geliebten Genies: und da, mitten unter unschätzbaren Psychologicis der décadence (»mon coeur mis à un« von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers und Byrons verbrannt hat) springt mir ein unedierter Brief Wagners in die Augen, bezüglich auf eine Abhandlung Baudelaires in der Revue européenne, April 1861. Ich schreibe ihn ab:

Mon cher Monsieur Baudelaire, j'étais plusieurs fois chez vous sans vous trouver. Vous croirez bien, combien je suis désireux de vous dire quelle immense[1280] satisfaction vous m'avez preparée par votre article qui m'honore et qui m'encourage plus que tout ce qu'on a jamais dit sur mon pauvre talent. Ne serait-il pas possible de vous dire bientôt, à haute voix, comment je m'ai senti enivré en lisant ces belles pages qui me racontaient – comme le fait le meilleur poèmeles impressions que je me dois vanter d'avoir produites sur une organisation si supérieure que la vôtre? Soyez mille fois remercié de ce bienfait que vous m'avez procuré, et croyez-moi bien fier de vous pouvoir nommer ami. – A bientôt, n'est-ce pas?

Tout à vous Richard Wagner


(Wagner war damals 48 Jahr alt, Baudelaire 40: der Brief ist rührend, obschon in miserablem Französisch.)

Im selben Buche finden sich Skizzen Baudelaires, in denen er auf eine leidenschaftliche Weise Heinrich Heine gegen französische Kritik (Jules Janin) in Schutz nimmt. – Man hat, in der letzten Zeit seines Lebens noch, wo er halb irre war und langsam zugrunde ging, Wagnersche Musik wie Medizin an ihm angewandt; und selbst, wenn man nur Wagners Namen nannte, »il a souri d'allégresse«. (– Einen Brief dieser Art Dankbarkeit und selbst Enthusiasmus hat, wenn mich nicht alles trügt, Wagner nur noch einmal geschrieben: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie.)

(Aus einem Briefe Baudelaires: »Ich wage nicht mehr von Wagner zu reden: man hat sich zu sehr über mich lustig gemacht. Diese Musik ist eine der ganz großen Freuden meines Daseins gewesen: ich habe gut fünfzehn Jahre keine solche Erhebung – vielmehr enlèvement – gefühlt.« –)

– Wie geht es jetzt, lieber Freund? Ich habe mir geschworen, eine Zeitlang nichts mehr ernst zu nehmen. Auch dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich wieder »Literatur« gemacht hätte: diese Niederschrift war für mich; ich will alle Winter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift für mich machen – der Gedanke an »Publizität« ist eigentlich ausgeschlossen.

Der Fall Fritzsch ist telegraphisch in Ordnung gebracht. – Herr Spitteler hat geschrieben, nicht übel, sich für seine »Unverschämtheit« (– so sagt er selbst) entschuldigend.

Der Winter ist hart; es fehlt mir aber augenblicklich nichts, es wäre denn eine göttliche und stille Musik, Ihre Musik, lieber Freund!

Ihr N.


Die Zeitungen und Zeitschriften, welchen Fritzsch durch ein artiges[1281] Zirkular letzten Herbst ein Gesamt-Exemplar meiner Schriften angeboten hatte, zum Zweck einer Besprechung, haben ihm samt und sonders nicht geantwortet. –

Overbecks Vater ist gestorben, 84 Jahre alt. Overbeck selbst ist dazu nach Dresden gereist: wie ich fürchte, zum Nachteil seiner eignen Gesundheit, die diesen Winter wieder Schwierigkeiten macht.

Schneestürme überall, Eisbär-Humanität.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1280-1282.
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Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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