236.
An Reinhart von Seydlitz

[1292] Turin, den 13. Mai 1888

Adresse: Torino (Italia), ferma in posta

(gültig bis zum 5. Juni)


Lieber Freund, es dünkt mich unwahrscheinlich, daß Du Dich endgültig zur Mumie (männlicher geredet: zum Mum) entschlossen hast. Der Frühling ist da: Du wirst wieder für die Reize des »deutschen Gemüts« offen stehn – und vielleicht sogar für die der Freundschaft! Dein Brief kam sehr erquicklich in den Winter meines Nizzaer Mißvergnügens hinein, von dem ich Dir, zu meinem Bedauern, eine nicht unverächtliche Probe gegeben habe. Mit dem Verlassen Nizzas haben mich diesmal auch die schwarzen Geister verlassen – und, Wunder über Wunder, ich habe einen merkwürdig heiteren Frühling bisher gehabt. Den eisten seit zehn, fünfzehn Jahren – vielleicht noch länger! Nämlich; ich habe Turin entdeckt ... Turin keine bekannte Stadt! – nicht wahr? Der gebildete Deutsche reist daran vorbei. Ich, in meiner willkürlichen Verhärtung gegen alles, was die Bildung heischt, habe mir aus Turin meine dritte Residenz zurechtgemacht, will sagen Sils-Maria[1292] als erste und Nizza als zweite. An jedem Ort vier Monate; für Turin zwei Monate Frühjahr und zwei Monate Herbst. Seltsam! Was mich dazu überredet, ist die Luft, die trockne Luft, die an allen drei Orten gleich ist, und aus denselben meteorologischen Gründen. Schneegebirge im Norden und Westen – auf diese Rechnung kam ich hierher – und bin entzückt! Selbst an sehr warmen Tagen – wir hatten schon solche – gibt es jenen berühmten Zephyr, von dem ich bisher nur durch die Dichter wußte (ohne ihnen zu glauben! Lügenvolk!). Die Nächte frisch. Man sieht mitten aus der Stadt hinein in den Schnee. Außerdem vorzügliche Theater, italienisch oder französisch; Carmen, wie billig, zur Feier meiner Gegenwart (successo piramidale – Verzeihung für die ägyptische Anspielung!). Eine ernste, fast großgesinnte Welt stiller Straßen mit Palästen des vorigen Jahrhunderts, sehr aristokratisch. (Ich selbst wohne dem palazzo Carignano gegenüber, ein alter palazzo des Justizministeriums.) Höhe der Caféhaus-Kultur, der gelati, des cioccolato Torinese. Dreisprachige Buchhandlungen. Universität, gute Bibliothek, Sitz des Generalstabs. Die Stadt mit herrlichen Alleen; unvergleichliche Uferlandschaften am Po. Bei weitem die angenehmste, reinlichste, großräumigste Stadt Italiens, mit dem Luxus der portici einer Länge von 10020 Meter. – Die Nordwinde, scheint es, bringen mir Heiterkeit; und stelle Dir vor, es kommen Nordwinde sogar aus Dänemark zu mir. Das nämlich ist das Neueste: an der Kopenhagener Universität liest jetzt der Dr. Georg Brandes einen größeren Zyklus Vorlesungen über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche! Dieselben haben, nach den Zeitungen, einen glänzenden Verlauf, der Saal jedesmal zum Brechen voll; mehr als 300 Zuhörer.

Wie lange wird es dauern, ehe meine peripherischen Wirkungen (– denn ich habe Anhänger in Nordamerika und sogar in Italien) zurückwirken auf das geliebte Vaterland? – wo man mit einem tückischen Ernste mich seit Jahren gewähren läßt, ohne auch nur zu mucksen ... Das ist sehr philosophisch – und klug!

Anbei eine Frage. Ist Dir durch meinen Verleger meine letzte Schrift, die »Streitschrift« hübsch, wie sich's geziemt, »zu geehrten Händen« übersandt worden?

Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante,[1293] mit Diderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Zynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem eignen Pferde abschlägt. Das Pferd, die arme geschundne Kreatur, blickt sich um, dankbar, sehr dankbar –

Du hast jetzt in Madame Judith Gautier (ehemals Mendès) – Tribschener Angedenkens – eine eifrige Kameradin in der Propaganda für Japon. Hast Du von ihrem großen Theatererfolge mit »la marchande des sourires« gelesen?

Adieu, lieber Freund, empfiehl mich Deiner lieben Frau zu Gnaden (– es gibt sehr gute Nachrichten von meiner Schwester, die jetzt nun endgültig übergesiedelt in die Kolonie Nueva Germania ist) und, wenn es möglich, auch Deiner verehrten Frau Mutter.

Mit einem herzlichen Glückwunsch

Dein Freund Nietzsche


(nach Turin Sils-Maria, Oberengadin Schweiz)

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1292-1294.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden