254.
An Peter Gast

[1320] Turin, den 14. Okt. 1888


Lieber Freund, ich werde mich hüten, Ihnen von meinen Rezepten zur »himmlischen und irdischen Rekonvaleszenz« zu sprechen, da[1320] Sie, nicht nur dem Anscheine nach, sich hundertmal besser auf dies Problem, die »Lösung« eingerechnet, verstehn. Unter diesen Umständen ist selbst Berlin kein Umstand: es macht mir das größte Vergnügen, Sie gerade dort zu wissen. Selbst Turin ist eigentlich kein Gesichtspunkt mehr.

In Sachen des »Löwen« hat Bülow nicht geantwortet: was ihm schlecht bekommen ist. Denn diesmal war ich's, der ihm einen groben und vollkommen berechtigten Brief geschrieben hat, um ein für allemal mit ihm zu Ende zu sein. Ich habe ihm zu verstehn gegeben, daß »ihm der erste Geist des Zeitalters einen Wunsch ausgedrückt habe«: ich erlaube mir jetzt dergleichen. –

Heute kam Bogen 6 von Naumann an; es werden doch wohl noch 2 Bogen mehr. In der Tat hat man mich mit dieser Schrift in nuce: sehr viel auf kleinem Raum.

Eben trifft ein Brief des Professor Deussen aus Madrid ein: er will noch ganz Spanien durchreisen und doch zur rechten Zeit für die Berliner Vorlesungen wieder am Platz sein. »Die Luft von Madrid, einzig an Reinheit, Trockenheit, Dünne und Durchsichtigkeit, – alles erscheint in einen farbigen Äther getaucht, glänzend, wie ein überfirnißtes Gemälde.«

Wissen Sie, wer den »Fall« zugeschickt bekommt? Die Witwe Bizets. Und zwar auf eifrigste Fürsprache des Dr. Brandes: er nennt sie »die lieblichste, charmanteste Frau, mit einem kleinen nervösen tic, der ihr sonderbar gut steht, aber ganz echt, ganz wahr und feurig«. Er meint, daß sie etwas Deutsch versteht. »Das Kind Bizets ist von idealer Schönheit und Lieblichkeit.« –

Er hat ein Exemplar meiner Schrift an den größten schwedischen Schriftsteller, der ganz für mich gewonnen sei, August Strindberg gegeben, er nennt ihn ein »wahres Genie«, nur etwas verrückt. Insgleichen bittet er um Exemplare für ein paar Personnagen der höchsten Petersburger Gesellschaft, die bereits auf mich aufmerksam gemacht sind, soweit dies bei dem Verbot meiner Schriften in Rußland möglich ist: der Fürst Urussow und die Prinzessin Anna Dmitrievna Ténicheff. Das sind »höhere Feinschmecker« ...

Die Franzosen haben den Hauptroman Dostojews kijs auf die Bühne gebracht. Insgleichen ist eine Oper »Bacchos« mir im Gedächtnis[1321] hängengeblieben, Musik und Dichtung vom gleichen, der Name ist mir entwischt. Nicht aufgeführt, nur in Aussicht.

Gegen Turin ist nichts einzuwenden: es ist eine herrliche und seltsam wohltuende Stadt. Das Problem, innerhalb der besten Quartiere einer Stadt, nahe, ganz nahe ihrem Zentrum, eine Einsiedler-Ruhe in ungeheuer schönen und weiten Straßen zu finden – dies für Großstädte anscheinend unlösbare Problem ist hier gelöst. Die Stille ist hier noch die Regel, die Belebtheit, die »Großstadt« gleichsam Ausnahme. Dabei annähernd 300000 Einwohner.

Das Wetter ist seit einigen Tagen von nizzahafter Reinheit und Leuchtkraft der Farben, nur etwas zu frisch für mich, der ich durch die Engadiner Winter-Einsperrung geradezu eine Angst vor dem neuen Winter im Leibe habe. Seit Juni habe ich gefroren, und wie! Ohne jedwedes Gegenmittel! – Es kommt dazu, daß meine Gesundheit über einen choc nicht hinwegkommt, der durch eine etwas zu lange Dysenterie (»Kolik« auf deutsch) bedingt ist. Ich glaubte zuerst an Vergiftung: doch haben die normalen Mittel Bismut und Dowersches Pulver ihre Schuldigkeit getan. Immerhin resultiert eine Entkräftung daraus, die auch gegen Kälte empfindlicher macht. –

Es grüßt und umarmt Sie auf das herzlichste Ihr getreuer Freund

Nietzsche


Soeben, am 15. morgens, finde ich einen liebenswürdigen Gratulationsbrief vor: schönsten Dank! Um so mehr, als es der einzige ist! – – Daß ein Orchester Ihnen wohltut, erfreut mich über die Maßen, – Ihre Reise bekommt immer mehr Sinn, – zuviel bereits ...

Bogen 6 eben ab an Naumann.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1320-1322.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden