259.
An Franziska Nietzsche

[1328] 3. November 1888

Adresse: Torino (Italia), via Carlo Alberto 6 III


Meine alte Mutter, – dies ist der merkwürdigste Zufall, den es geben kann. Mein Verstand stand einen Augenblick still. Stelle Dir vor, daß[1328] ich eben im Begriff bin, Dich um die Abschrift einer Stelle aus den gesammelten Werken Wagners zu bitten: Band IX, in dem ein Brief Wagners an mich steht. Davon wollte ich den letzten Satz haben, den ich einer bestimmten Arbeit wegen nötig habe. Dein Brief enthält diesen Satz: jene dritte Seite, die Dir solches Vergnügen gemacht hat. Vollkommen märchenhaft! –

Zu meinem Bedauern fehlt das Kuvert des kuriosen Briefs: ich habe nicht die entfernteste Ahnung, woher er kommt. Hättest Du den Poststempel mir lieber mitgeteilt, statt der Wanderung von Ort zu Ort, so wäre ich schon auf der Spur. Es muß ein genauer Bekannter sein, darauf weist der Scherz in der Adresse »Röcken bei Lützen« hin. Kommt er nicht aus Wien? –

An der Kälte habe ich noch mäßig gelitten, ein paar regnerische Tage abgerechnet: da ist man immer empfindlicher. Jetzt ist's wieder schön mild, sogar die Nacht. Das Kälteste war ein einziger Oktobertag, wo wir zwar nicht den Gefrierpunkt, aber beinahe erreichten. Gleich darauf wieder wonnevolle Herbsttage. Wir sind immer noch im Überfluß der schönsten Trauben: das Pfund allererste Qualität 24 Pfennige nach Eurem Geld. Die Ernährung ist über alle Maßen gut und zuträglich. Man lebt nicht umsonst im Lande der allerberühmtesten Viehzucht, und zwar in dessen königl. Residenz. Die Zartheit des Kalbfleisches ist einfach für mich etwas Neues, insgleichen das von mir hochgeschätzte delikate Lammfleisch. Und welche Zubereitung! welche solide, saubere, sogar raffinierte Küche! Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was guter Appetit ist: aufrichtig, ich esse viermal so viel wie in Nizza, zahle weniger und habe noch nie eine Magenbeschwerde gehabt. Zugegeben, daß man mich hierin und in andern Dingen auszeichnet; ich bekomme entschieden die besten Bissen. Aber das ist überall der Fall, wo ich hier verkehre: man nimmt mich für etwas sehr Distinguiertes, Du würdest Dich selber erstaunen, wie stolz und voll Haltung Dein altes Geschöpf hier einherwandelt. Gegen Nizza hat sich alles gerade umgedreht. – Ein leichter Paletot, mit blauer Seide gefüttert, genügt einstweilen über meinem Gesellschafts-Anzug vollkommen. Der dicke, immer noch ganz ordentliche Überzieher von Hillebrand kommt erst diesen Winter zu Ehren. Zwei Paar Schuhe mit Schnüren. Ungeheure englische Winterhandschuh. Eine[1329] goldne Brille (nicht unterwegs). Jetzt kannst Du Dir das alte Geschöpf vorstellen.

In Liebe F.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1328-1330.
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Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
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