261.
An Franz Overbeck

[1330] Torino, via Carlo Alberto 6, III,

am 13. November 1888


Lieber Freund, der Ausnahmefall des 16. Nov. mag es entschuldigen, wenn ich meinem letzten Brief heute schon einen Brief nachschicke. Vielleicht seid Ihr schon im Winter: wir sind es beinahe, – die nächsten Berge haben schon eine leichte Perücke. Hoffentlich wird der Winter entsprechend wie der Herbst gewesen ist: wenigstens hier war er ein wahres Wunder von Schönheit und Lichtfülle – ein Claude Lorrain in Permanenz. Ich habe über den ganzen Begriff »schönes Wetter« umgelernt und denke mit Erbarmen an meine stupide Anhänglichkeit an Nizza. – Meine Bücher, die ich dort gelassen habe, sind bereits unterwegs nach Turin. Bei diesem Anlaß erfuhr ich, daß in der pension de Genève meine lustige Tischnachbarin von ehedem, Frau von Brandeis, eingetroffen ist. – Auch der Karbon-Natron-Ofen ist unterwegs, zu sehr honetten Preisen, wie ich es dem Dresdner Nieske zu Ehren sagen muß. Ein paar süperbe englische Winterhandschuhe habe ich mir heute gekauft. – Beim besten Willen, alter Freund Overbeck, gelingt es mir nicht, Dir etwas Schlimmes von mir zu erzählen. Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune. Auch behandelt man mich hier comme il faut, als irgend etwas extrem Distinguiertes, es gibt eine Art, mir die Türe aufzumachen, die ich noch nirgendswo erlebt habe. Zugegeben, daß[1330] ich nur sehr gute Orte besuche, auch mich eines klassischen Schneiders erfreue. – Wir hatten dieser Tage den düstern Pomp eines großen Begräbnisses, an dem ganz Italien beteiligt war: der Conte Robilant, der verehrteste Typus des Piemonteser Adels, übrigens leiblicher Sohn des Königs Carlo Alberto, wie man hier weiß. An ihm hat Italien einen Premier verloren, der nicht zu ersetzen ist. – Etwas Heiteres dicht nebenbei: die Schönheiten der Turiner Aristokratie sind ganz übermütig geworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in Spaa hier anlangten. Sie haben sofort für den Januar auch einen concorso di bellezza ins Auge gefaßt – ich glaube, sie haben alles Recht dazu! Ich sah, bei der Frühlings-Ausstellung, bereits einen solchen concours in Portraits vor mir. Auch unsre neue Turinerin, die princesse Laetitia Buonaparte, neuvermählt mit dem duc d'Aosta wird mit Vergnügen bei der Partie sein. – Ich habe inzwischen für meinen »Fall Wagner« wahre Huldigungsschreiben bekommen. Man nennt die Schrift nicht nur ein psychologisches Meisterstück ersten Ranges, auf einem Gebiete, wo niemand überhaupt bisher Augen gehabt hat – in der Psychologie der Musiker: man nennt die Aufklärung über den (décadence-Charakter unserer Musik überhaupt ein kulturhistorisches Ereignis, etwas, das niemand außer mir gekonnt hätte: die Worte über Brahms seien das äußerste von psycholog. Sagazität. – Hr. Spitteler hat in der Donnerstag-Nummer des »Bund« sein Entzücken ausgedrückt, Herr Köselitz im »Kunstwart«; aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue als bevorstehend. – Auch sonst gute Nachrichten. Der größte schwedische Schriftsteller, »ein wahres Genie«, wie Dr. Brandes schreibt, August Strindberg, hat sich inzwischen ganz für mich erklärt; auch die Petersburger Gesellschaft sucht Beziehungen zu mir herzustellen, sehr erschwert durch das Verbot meiner Schriften (Fürst Urussow, Fürstin Anna Dimitrievna Tinicheff). Endlich die charmante Witwe Bizets! ...

Der Druck der »Götzen-Dämmerung. Oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert« ist beendet; das Manuskript des »Ecce homo. Wie man wird, was man ist« ist bereits in der Druckerei. – Letzteres, von absoluter Wichtigkeit, gibt einiges Psychologische u. selbst Biographische über mich und meine Literatur: man wird mich mit einem Male zu sehn bekommen. Der Ton der Schrift, heiter und verhängnisvoll, wie alles,[1331] was ich schreibe. – Ende nächsten Jahres erscheint dann das erste Buch der Umwertung. Es liegt fertig da. –

Mit dem allerherzlichsten Glückwunsch für Dein Wohl an Leib und Seele Dein

Nietzsche

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1330-1332.
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Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
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