272.
An Meta von Salis

[1348] Turin, den 29. Dezember 1888


Verehrtes Fräulein, es ist vielleicht nicht verboten, Ihnen um die Jahreswende einen Gruß zu senden. – Hoffentlich gibt es ein gutes Jahr. Vom alten sage ich gar nichts mehr – es war zu gut ...

Inzwischen fange ich an, auf eine vollkommen unerhörte Weise berühmt zu werden. Ich glaube, daß noch nie ein Sterblicher solche Briefe bekommen hat, wie ich sie bekomme und nur von lauter ausgesuchten Intelligenzen, von Charakteren in hohen Pflichten und Stellungen bewährt. Überall her: nicht am wenigsten aus der ersten St. Petersburger Gesellschaft. Und die Franzosen! Sie sollten den Ton hören, mit dem Mr. Taine an mich schreibt! Soeben traf ein bezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief eines der ersten und einflußreichsten Männer Frankreichs ein, der aus dem Bekanntwerden und Übersetzen meiner Schriften sich eine Aufgabe machen will: kein Geringerer als der Chef-Redaktor des Journal des Débats und der Revue des Deux Mondes Mr. Bourdeau. Er sagt mir übrigens, daß eine Besprechung meines »Fall Wagner« im Januar im Journal des Débats erscheinen werde – von wem? Von Monod. – Ich habe ein veritables Genie unter meinen Lesern, den Schweden August Strindberg, der mich als den tiefsten Geist aller Jahrtausende empfindet. Ich sende Ihnen einen Aufsatz im »Kunstwart«, mit der Bitte, ihn mir gelegentlich zurückzugeben, der in der Tat auf eine vollkommene Weise den »Fall Nietzsche« präzisiert. – Das Merkwürdigste ist hier in Turin eine vollkommene Faszination, die ich ausübe – in allen Ständen. Ich werde mit jedem Blick wie ein Fürst behandelt – es gibt eine extreme Distinktion in der Art, wie man mir die Tür aufmacht, mir Speise vorsetzt. Jedes Gesicht verwandelt sich, wenn ich in ein großes Geschäft trete. – Und da ich nichts beanspruche und mit vollkommener Gelassenheit gegen jedermann gleich bin, auch das Gegenteil eines düsteren Gesichts habe, so brauche ich weder Namen, noch Rang, noch Geld, um immer unbedingt der erste zu sein. –

Damit es auch nicht am Kontraste fehlt! meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstage mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen, »berühmt« zu werden ... Das werde ein schönes Gesindel sein, das an mich glaube ... Dies dauert jetzt sieben Jahre ... –[1348]

– Noch ein andrer Fall. Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts andres bin. Mein Verleger, Herr E. W. Fritzsch, hat bei Gelegenheit vom »Fall Wagner« einen der schnödesten Artikel über mich in dem von ihm selbst redigierten Musikalischen Wochenblatt abdrucken lassen. Ich habe ihm darauf sofort geschrieben: »Wieviel verlangen Sie für meine ganze Literatur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche.« – Antwort: 11000 Mark. – Sehen Sie! Das ist deutsch ... der Verleger des Zarathustra!

Georg Brandes geht diesen Winter wieder nach St. Petersburg, um über das Untier Nietzsche Vorträge zu halten. Er ist wirklich ein ausgezeichnet intelligenter und guter Mensch, ich habe noch nie so delikate Briefe bekommen. – Es wird auf das eifrigste gedruckt, feuereifrigst ... Inzwischen ist Herr Köselitz ein großes Tier geworden. Joachim und de Ahna schwärmen für diesen neuen »Klassiker« – ich füge hinzu, daß er in eines der glänzendsten Häuser Berlins mit nur allzuglücklichem Erfolg sich um ein merkwürdig schönes und interessantes Mädchen bewirbt, obwohl er einen Grafen Schlieben zum Rivalen hat. Er war schon den ganzen Sommer auf dem Waldschloß seiner Prinzessin in Hinterpommern unter lauter Junkern und [unlesbares Wort].

Wahrscheinlich wird ihn Graf Hochberg um die erste Aufführung des Löwen von Venedig für Berlin angehen. – Kurz: Umwertung aller Werte ... Mit den besten Grüßen und Wünschen

Ihr N.


Haben Sie davon gehört, daß Mad. Kowaleska in Stockholm (– Sie stammt vom alten Ungarnkönig Matthias Corvin) den allerersten mathematischen Preis der Pariser Akademie erhalten hat, den sie vergeben kann? Sie gilt heute als das einzige Genie der Mathematik. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 1348-1349.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.1, Bd.1, Briefe von Nietzsche, Juni 1850 - September 1864. Briefe an Nietzsche Oktober 1849 - September 1864.
Briefwechsel, Kritische Gesamtausgabe, Abt.2, Bd.2, Briefe an Nietzsche, April 1869 - Mai 1872
Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden.
Sämtliche Briefe, 8 Bde.
Sämtliche Briefe: Kritische Studienausgabe in 8 Bänden