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[124] Die moralische Skepsis im Christentum. – Auch das Christentum hat einen großen Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis – auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit; es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine »Tugenden«: es ließ für immer jene großen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Altertum nicht arm war – jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechts-Helden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Senecas und Epiktets lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Überlegenheit und sind voll geheimer Einblicke und Überblicke, es ist uns dabei zumute, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine[124] junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, daß wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher dasselbe Gefühl der feinen Überlegenheit und Einsicht haben – wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus – retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntnis!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 124-125.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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