290

[168] Eins ist not. – Seinem Charakter »Stil geben« – eine große und seltne Kunst! Sie übt der, welcher alles übersieht, was seine Natur an Kräften[168] und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine große Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen – beide Male mit langer Übung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Häßliche, welches sich nicht abtragen ließ, versteckt, dort ist es ins Erhabne umgedeutet. Vieles Vage, der Formung Widerstrebende ist für Fernsichten aufgespart und ausgenutzt worden – es soll in das Weite und Unermeßliche hinaus winken. Zuletzt, wenn das Werk vollendet ist, offenbart sich, wie es der Zwang desselben Geschmacks war, der im großen und kleinen herrschte und bildete: ob der Geschmack ein guter oder ein schlechter war, bedeutet weniger, als man denkt – genug, daß es ein Geschmack ist! – Es werden die starken, herrschsüchtigen Naturen sein, welche in einem solchen Zwange, in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter dem eignen Gesetz ihre feinste Freude genießen; die Leidenschaft ihres gewaltigen Wollens erleichtert sich beim Anblick aller stilisierten Natur, aller besiegten und dienenden Natur; auch wenn sie Paläste zu bauen und Gärten anzulegen haben, widerstrebt es ihnen, die Natur frei zu geben. – Umgekehrt sind es die schwachen, ihrer selber nicht mächtigen Charaktere, welche die Gebundenheit des Stils hassen: sie fühlen, daß, wenn ihnen dieser bitterböse Zwang auferlegt würde, sie unter ihm gemein werden müßten: sie werden Sklaven, sobald sie dienen, sie hassen das Dienen. Solche Geister – es können Geister ersten Ranges sein – sind immer darauf aus, sich selber und ihre Umgebungen als freie Natur – wild, willkürlich, phantastisch, unordentlich, überraschend – zu gestalten oder auszudeuten: und sie tun wohl daran, weil sie nur so sich selber wohltun! Denn eins ist not: daß der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche – sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst: nur dann erst ist der Mensch überhaupt erträglich anzusehen! Wer mit sich unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen: wir anderen werden seine Opfer sein, und sei es auch nur darin, daß wir immer seinen häßlichen Anblick zu ertragen haben. Denn der Anblick des Häßlichen macht schlecht und düster.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 168-169.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
Die fröhliche Wissenschaft
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Die fröhliche Wissenschaft - La gaya scienza