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[186] Als Interpreten unserer Erlebnisse. – Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und ihresgleichen fremd gewesen – sie haben nie sich aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntnis gemacht. »Was habe ich eigentlich erlebt? Was ging damals in mir und um mich vor? War meine Vernunft hell genug? War mein Wille gegen alle Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des Phantastischen?« – so hat keiner von ihnen gefragt, so fragen alle die lieben Religiösen auch jetzt noch nicht: sie haben vielmehr einen Durst nach Dingen, welche wider die Vernunft sind, und wollen es sich nicht zu schwer machen, ihn zu befriedigen – so erleben sie denn »Wunder« und »Wiedergeburten« und hören die Stimmen der Englein! Aber wir, wir anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unsern Erlebnissen so streng ins Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsre Experimente und Versuchs-Tiere sein!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 186.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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