105

[111] Die Deutschen als Künstler. – Wenn der Deutsche einmal wirklich in Leidenschaft gerät (und nicht nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur Leidenschaft!), so benimmt er sich dann in derselben, wie er eben muß, und denkt nicht weiter an sein Benehmen. Die Wahrheit aber ist, daß er sich dann sehr ungeschickt und häßlich und wie ohne Takt und Melodie benimmt, so daß die Zuschauer ihre Pein oder ihre Rührung dabei haben und nicht mehr – es sei denn, daß er sich in das Erhabne und Entzückte hinaufhebt, dessen manche Passionen fähig sind. Dann wird sogar der Deutsche schön! Die Ahnung davon, auf welcher Höhe erst die Schönheit ihre Zauber selbst über Deutsche ausgießt, treibt die deutschen Künstler in die Höhe und Überhöhe und in die Ausschweifungen der Leidenschaft: ein wirkliches tiefes Verlangen also, über die Häßlichkeit und Ungeschicktheit hinauszukommen, mindestens hinauszublicken – hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur Anzeichen dafür, daß sie tanzen möchten: diese armen Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben – und mitunter noch höhere Gottheiten!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 111-112.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
Die fröhliche Wissenschaft
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Die fröhliche Wissenschaft - La gaya scienza