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[82] Wille und Willigkeit. – Man brachte einen Jüngling zu einem weisen Mann und sagte: »Siehe, das ist einer, der durch die Weiber verdorben wird!« Der weise Mann schüttelte den Kopf und lächelte. »Die Männer sind es«, rief er, »welche die Weiber verderben: und alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüßt und gebessert werden, – denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde.« – »Du bist zu mildherzig gegen die Weiber«, sagte einer der Umstehenden, »du kennst sie nicht!« Der weise Mann antwortete: »Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit – so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade: wer könnte für sie des Öls und der Milde genug haben.« – »Was Öl! Was Milde!« rief ein andrer aus der Menge: »man muß die Weiber besser erziehn!« – »Man muß die Männer besser erziehn«, sagte der weise Mann und winkte dem Jünglinge, daß er ihm folge. – Der Jüngling aber folgte ihm nicht.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 82.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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