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[90] Der esprit ungriechisch. – Die Griechen sind in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und schlicht; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute Zeit, nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es so häufig werden: welche gar zu gern einen kleinen Sprung ins Gegenteil machen und den Geist der Logik eigentlich nur vertragen, wenn er durch eine Menge solcher kleiner Sprünge ins Gegenteil seine gesellige Artigkeit, seine gesellige Selbstverleugnung verrät. Logik erscheint ihnen als notwendig wie Brot und Wasser, aber auch gleich diesen als eine Art Gefangenenkost, sobald sie rein und allein genossen werden sollen. In der guten Gesellschaft muß man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit. – Der gesellige Sinn der Griechen war bei weitem weniger entwickelt, als der der Franzosen es ist und war: daher so wenig esprit bei ihren geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei ihren Witzbolden, daher – ach! man wird mir schon diese meine Sätze nicht glauben, und wie viele der Art habe ich noch auf der Seele! – Estres magna tacere – sagt Martial mit allen Geschwätzigen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 90-91.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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