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[97] Der Ernst um die Wahrheit. – Ernst um die Wahrheit! Wie verschiedenes verstehen die Menschen bei diesen Worten! Eben dieselben Ansichten und Arten von Beweis und Prüfung, welche ein Denker an sich wie eine Leichtfertigkeit empfindet, der er zu seiner Scham in dieser oder jener Stunde unterlegen ist – eben dieselben Ansichten können einem Künstler, der auf sie stößt und mit ihnen zeitweilig lebt, das Bewußtsein geben, jetzt habe ihn der tiefste Ernst um die Wahrheit erfaßt, und es sei bewunderungswürdig, daß er, obschon Künstler, doch zugleich die ernsthafteste Begierde nach dem Gegensatze[97] des Scheinenden zeige. So ist es möglich, daß einer gerade mit seinem Pathos von Ernsthaftigkeit verrät, wie oberflächlich und genügsam sein Geist bisher im Reiche der Erkenntnis gespielt hat. – Und ist nicht alles, was wir wichtig nehmen, unser Verräter? Es zeigt, wo unsere Gewichte liegen und wofür wir keine Gewichte besitzen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 97-98.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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