Die fröhliche Wissenschaft

(»la gaya scienza«)

[1127] Die »Morgenröte« ist ein jasagendes Buch, tief, aber hell und gütig. Dasselbe gilt noch einmal und im höchsten Grade von der gaya scienza: fast in jedem Satz derselben halten sich Tiefsinn und Mutwillen zärtlich an der Hand. Ein Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt, den ich erlebt habe – das ganze Buch ist ein Geschenk – verrät zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die »Wissenschaft« fröhlich geworden ist:


Der du mit dem Flammenspeere

Meiner Seele Eis zerteilt,

Daß sie brausend nun zum Meere

Ihrer höchsten Hoffnung eilt:

Heller stets und stets gesunder,

Frei im liebevollsten Muß –

Also preist sie deine Wunder,

Schönster Januarius!


Was hier »höchste Hoffnung« heißt, wer kann darüber im Zweifel sein, der als Schluß des vierten Buchs die diamantene Schönheit der ersten Worte des Zarathustra aufglänzen sieht? – Oder der die granitnen Sätze am Ende des dritten Buchs liest, mit denen sich ein Schicksal für alle Zeiten zum ersten Male in Formeln faßt? – Die Lieder des Prinzen Vogelfrei, zum besten Teil in Sizilien gedichtet, erinnern ganz ausdrücklich an den provençalischen Begriff der »gaya scienza«, an jene Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist, mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provençalen gegen alle zweideutigen Kulturen abhebt; das allerletzte Gedicht zumal, »an den Mistral«, ein ausgelassenes Tanzlied, in dem, mit Verlaub! über die Moral hinweggetanzt wird, ist ein vollkommner Provençalismus. –[1127]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1127-1128.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Ecce Homo
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Ecce homo: Wie man wird, was man ist.
Der Antichrist / Ecce Homo / Dionysos- Dithyramben.
Ecce Homo, Jubiläumsausgabe
Ecce homo