Genealogie der Moral

Eine Streitschrift

[1143] Die drei Abhandlungen, aus denen diese Genealogie besteht, sind vielleicht in Hinsicht auf Ausdruck, Absicht und Kunst der Überraschung das Unheimlichste, was bisher geschrieben worden ist. Dionysos ist, man weiß es, auch der Gott der Finsternis. – Jedesmal ein Anfang, der irreführen soll, kühl, wissenschaftlich, ironisch selbst, absichtlich Vordergrund, absichtlich hinhaltend. Allmählich mehr Unruhe; vereinzeltes Wetterleuchten; sehr unangenehme Wahrheiten aus der Ferne her mit dumpfem Gebrumm laut werdend – bis endlich ein tempo feroce erreicht ist, wo alles mit ungeheurer Spannung vorwärts treibt. Am Schluß jedesmal, unter vollkommen schauerlichen Detonationen, eine neue Wahrheit zwischen dicken Wolken sichtbar. – Die Wahrheit der ersten Abhandlung ist die Psychologie des Christentums: die Geburt des Christentums aus dem Geiste des Ressentiment, nicht, wie wohl geglaubt wird, aus dem »Geiste« – eine Gegenbewegung ihrem Wesen nach, der große Aufstand gegen die Herrschaft vornehmer Werte. Die zweite Abhandlung gibt die Psychologie des Gewissens: dasselbe ist nicht, wie wohl geglaubt wird, »die Stimme Gottes im Menschen« – es ist der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich entladen kann. Die Grausamkeit als einer der ältesten und unwegdenkbarsten Kultur-Untergründe hier zum ersten Male ans Licht gebracht. Die dritte Abhandlung gibt die Antwort auf die Frage, woher die ungeheure Macht des asketischen Ideals, des Priester-Ideals, stammt, obwohl dasselbe das schädliche Ideal par excellence, ein Wille zum Ende, ein décadence-Ideal ist. Antwort: nicht, weil Gott hinter den Priestern tätig ist, was wohl geglaubt wird, sondern faute de mieux – weil es das einzige Ideal bisher war, weil es keinen Konkurrenten hatte. »Denn der Mensch will lieber noch das Nichts wollen als nicht wollen«... – Vor allem fehlte ein Gegen-Ideal – bis auf Zarathustra. – Man hat mich verstanden. Drei entscheidende Vorarbeiten eines Psychologen für eine Umwertung aller Werte. – Dies Buch enthält die erste Psychologie des Priesters.[1143]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1143-1144.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Ecce Homo
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Ecce homo: Wie man wird, was man ist.
Der Antichrist / Ecce Homo / Dionysos- Dithyramben.
Ecce Homo, Jubiläumsausgabe
Ecce homo