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[1003] Ich nehme einen einzelnen Fall. Schopenhauer spricht von der Schönheit mit einer schwermütigen Glut – warum letzten Grundes? Weil er in ihr eine Brücke sieht, auf der man weitergelangt, oder Durst bekommt weiterzugelangen... Sie ist ihm die Erlösung vom »Willen« auf Augenblicke – sie lockt zur Erlösung für immer... Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom »Brennpunkte des Willens«, von der Geschlechtlichkeit – in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb verneint... Wunderlicher Heiliger! Irgend jemand widerspricht dir, ich fürchte, es ist die Natur. Wozu gibt es überhaupt Schönheit in Ton, Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur? was treibt die Schönheit heraus? – Glücklicherweise widerspricht ihm auch ein Philosoph. Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato (– so nennt ihn Schopenhauer selbst) hält einen andern Satz aufrecht: daß alle Schönheit zur Zeugung reize – daß dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf ins Geistigste...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1003.
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Götzen-Dämmerung
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.6, Bd.3, Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Der Antichrist; Ecce Homo; Dionysos-Dithyramben; Nietzsche contra Wagner (August 1888 - Anfang 1889)
Sämtliche Werke / Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner: Kritische Studienausgabe
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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