34

[1008] Christ und Anarchist. – Wenn der Anarchist, als Mundstück niedergehender Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung »Recht«, »Gerechtigkeit«, »gleiche Rechte« verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiß, warum er eigentlich leidet – woran er arm ist, an Leben... Ein Ursachen-Trieb ist in ihm mächtig: jemand muß schuld daran sein, daß er sich schlecht befindet... Auch tut ihm die »schöne Entrüstung« selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen – es gibt einen kleinen Rausch von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält: eine feinere Dosis Rache ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefinden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein unerlaubtes Vorrecht vor. »Bin ich eine Kanaille, so solltest du es auch sein«: auf diese Logik hin macht man Revolution. – Das Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas: es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befinden andern oder sich selber zumißt – ersteres tut der Sozialist, letzteres zum Beispiel der Christ –, macht keinen eigenlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unwürdige daran ist, daß jemand schuld daran sein soll, daß man leidet – kurz, daß der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines Lust-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen: der Leidende findet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, – ist er Christ, nochmals gesagt, so findet er sie in sich... Der Christ und der Anarchist – Beide sind décadents. – Aber auch wenn der Christ die »Welt« verurteilt, verleumdet, beschmutzt, so tut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der sozialistische Arbeiter die Gesellschaft verurteilt, verleumdet, beschmutzt: das »Jüngste Gericht« selbst ist noch der süße Trost der Rache – die Revolution, wie sie auch der sozialistische Arbeiter erwartet, nur etwas ferner gedacht... Das »Jenseits« selbst – wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen?...[1009]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1008-1010.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Götzen-Dämmerung
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.6, Bd.3, Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Der Antichrist; Ecce Homo; Dionysos-Dithyramben; Nietzsche contra Wagner (August 1888 - Anfang 1889)
Sämtliche Werke / Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner: Kritische Studienausgabe
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Der Fall Wagner / Götzen- Dämmerung / Nietzsche contra Wagner
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (insel taschenbuch)