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[1019] Mein Begriff vom Genie. – Große Männer sind wie große Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, daß lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist – daß lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu groß geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das »Genie«, die »Tat«, das große Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an »Zeitgeist«, an »öffentlicher Meinung«! – Man nehme den Fall Napoleons. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vor-Revolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleons ist, hervorgebracht haben: es hat ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon anders war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Zivilisation als die, welche in Frankreich in Dampf und Stücke ging, wurde er hier Herr, war er allein hier Herr. Die großen Menschen sind notwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig; daß sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, daß sie stärker, daß sie älter sind, daß länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältnis, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. – Daß man hierüber in Frankreich heute [1019] sehr anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), daß dort die Theorie vom Milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben findet, das »riecht nicht gut«, das macht einem traurige Gedanken. – Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und »großen Manne« abzufinden: entweder demokratisch in der Art Buckles oder religiös in der Art Carlyles. – Die Gefahr, die in großen Menschen und Zeiten liegt, ist außerordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fuße. Der große Mensch ist ein Ende; die große Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie – in Werk, in Tat – ist notwendig ein Verschwender: daß es sich ausgibt, ist seine Größe... Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das »Aufopferung«; man rühmt seinen »Heroismus« darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine große Sache, ein Vater land: Alles Mißverständnisse... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht – mit Fatalität, verhängnisvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höherer Moral... Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie mißversteht ihre Wohltäter. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1019-1020.
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Götzen-Dämmerung
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.6, Bd.3, Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Der Antichrist; Ecce Homo; Dionysos-Dithyramben; Nietzsche contra Wagner (August 1888 - Anfang 1889)
Sämtliche Werke / Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner: Kritische Studienausgabe
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (insel taschenbuch)