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[1025] Man könnte sagen, daß in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert das alles auch erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheißen, ein An-sich-heran-kommen-lassen von jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Tatsächlichen. Wie kommt es, daß das Gesamt-Ergebnis kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, zum achtzehnten Jahrhundert zurückzugreifen? (– zum Beispiel als Gefühls-Romantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Feminismus im Geschmack, als Sozialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloß ein verstärktes verrohtes achtzehntes Jahrhundert, das heißt ein décadence-Jahrhundert? So daß Goethe nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa bloß ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre? – Aber man mißversteht große Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen[1025] Nutzens ansieht. Daß man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehen weiß, das gehört selbst vielleicht zur Größe...

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 1025-1026.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.6, Bd.3, Der Fall Wagner; Götzen-Dämmerung; Der Antichrist; Ecce Homo; Dionysos-Dithyramben; Nietzsche contra Wagner (August 1888 - Anfang 1889)
Sämtliche Werke / Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner: Kritische Studienausgabe
Der Fall Wagner. Götzen- Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos- Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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