251

[716] Man muß es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will –, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preußische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitschke und ihre dick verbundenen Köpfe an –), und wie sie alle heißen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir verzeihn, daß auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr infiziertem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfing, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmäßigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck[716] dieses unmäßigen Gefühls – darüber darf man sich nicht täuschen. Daß Deutschland reichlich genug Juden hat, daß der deutsche Magen, das deutsche Blut Not hat (und noch auf lange Not haben wird), um auch nur mit diesem Quantum »Jude« fertig zu werden – so wie der Italiener, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind infolge einer kräftigeren Verdauung –: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muß. »Keine neuen Juden mehr hineinlassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Österreich) zu die Tore zusperren!« also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so daß sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar als unter günstigen), vermöge irgendwelcher Tugenden, die man heute gerne zu Lastern stempeln möchte – dank vor allem einem resoluten Glauben, der sich vor den »modernen Ideen« nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von gestern ist –: nämlich nach dem Grundsatze »so langsam als möglich!« Ein Denker, der die Zukunft Europas auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im großen Spiel und Kampf der Kräfte. Das, was heute in Europa »Nation« genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht –), ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese »Nationen« sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Konkurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in acht nehmen! Daß die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; daß sie nicht darauf hinarbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen[717] sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem »ewigen Juden« ein Ziel zu setzen –; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr so, wie der englische Adel es tut. Es liegt auf der Hand, daß am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschtums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzutun, hinzuzüchten ließe. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschtümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an meinem Ernst, an das »europäische Problem«, wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste. –


252

Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Wert-Minderung des Begriffs »Philosoph« für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: »je méprise Locke«; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmütig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinanderstrebten und sich dabei unrecht taten, wie sich eben nur Brüder unrecht tun. – Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wußte jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen[718] Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wußte: nämlich woran es in Carlyle fehlte – an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe des geistigen Blicks, kurz an Philosophie. – Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, daß sie streng zum Christentume hält: sie braucht seine Zucht zur »Moralisierung« und Veranmenschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche – ist eben deshalb, als der Gemeinere von beiden, auch frömmer als der Deutsche: er hat das Christentum eben noch nötiger. Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christentum noch einen echt englischen Nebengeruch von spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel gebraucht wird – das feinere Gift nämlich gegen das gröbere: eine feinere Vergiftung ist in der Tat bei plumpen Völkern schon ein Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit und Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet, richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als »Heilsarmee« moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Bußkrampf die verhältnismäßig höchste Leistung von »Humanität« sein, zu der es gesteigert werden kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im Gleichnis (und ohne Gleichnis –) zu reden: er hat in den Bewegungen seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach »Musik«. Man höre ihn sprechen; man sehe die schönsten Engländerinnen gehn – es gibt in keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne – endlich: man höre sie singen! Aber ich verlange zu viel...


253

Es gibt Wahrheiten, die am besten von mittelmäßigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemäßesten sind, es gibt Wahrheiten, die nur für mittelmäßige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen – auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade[719] jetzt hingestoßen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmäßiger Engländer – ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer – in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt. In der Tat, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, daß zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein Irrtum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Tatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen – sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den »Regeln«. Zuletzt haben sie mehr zu tun als nur zu erkennen – nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werte darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht größer, auch unheimlicher, als man denkt: der Könnende im großen Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen – während andrerseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwins eine gewisse Enge, Dürre und fleißige Sorglichkeit, kurz etwas Englisches nicht übel disponieren mag. – Vergesse man es zuletzt den Engländern nicht, daß sie schon einmal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesamt-Depression des europäischen Geistes verursacht haben: das, was man »die modernen Ideen« oder »die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts« oder auch »die französischen Ideen« nennt – das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel erhoben hat –, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der »modernen Ideen« ist zuletzt die âme française so dünn geworden und abgemagert, daß man sich ihres sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muß aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und gegen den Augenblick und Augenschein verteidigen: die europäische Noblesse – des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz das Wort in jedem hohen Sinne genommen – ist Frankreichs Werk und Erfindung, die europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen – Englands. –[720]


254

Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffiniertesten Kultur Europas und die hohe Schule des Geschmacks: aber man muß dies »Frankreich des Geschmacks« zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen – es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Teil Fatalisten, Verdüsterte, Kranke, zum Teil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist allen gemein: sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen Bourgeois. In der Tat wälzt sich heute im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich – es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängnisse Victor Hugos, eine wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung gefeiert. Auch etwas anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter Wille, sich der geistigen Germanisierung zu erwehren – und ein noch besseres Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taines – das heißt des ersten lebenden Historikers – einen beinahe tyrannischen Einfluß ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie »wagnerisieren«, das darf man vorhersagen – sie tut es jetzt schon genug! Es ist dennoch dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Kultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen und unfreiwilligen Germanisierung und Verpöbelung des Geschmacks; einmal die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die »Form«, für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend anderen, erfunden ist – dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten nicht gefehlt und immer wieder, dank der Ehrfurcht vor der »kleinen Zahl«, eine Art[721] Kammermusik der Literatur ermöglicht, welche im übrigen Europa sich suchen läßt –. Das zweite, worauf die Franzosen eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte vielfache moralistische Kultur, welche macht, daß man im Durchschnitt selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff (geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar Jahrhunderte moralistischer Arbeit, welche, wie gesagt, Frankreich sich nicht erspart hat; wer die Deutschen darum »naiv« nennt, macht ihnen aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist – und als gelungenster Ausdruck einer echt französischen Neugierde und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch, der mit einem napoleonischen Tempo durch sein Europa, durch mehrere Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und Entdecker dieser Seele – es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie einzuholen, um einige der Rätsel nachzuraten, die ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epikureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter großer Psycholog war –.) Es gibt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge tun heißt, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmut – unsrer deutschen Krankheit des Geschmacks, gegen deren Übermaß man sich augenblicklich mit großer Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die »große Politik« verordnet hat (gemäß einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt –). Auch jetzt noch gibt es in Frankreich ein Vorverständnis und ein Entgegenkommen für jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich[722] sind, um in irgendeiner Vaterländerei ihr Genüge zu finden, und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen – für die geborenen Mittelländler, die »guten Europäer«. – Für sie hat Bizet Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn – der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat.


255

Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, daß einer den Süden liebe, wie ich ihn liebe, als eine große Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurückverdirbt, ihm die Gesundheit mit zurückverdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach, muß, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter großen schönen einsamen Raubtieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht... Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, daß sie von Gut und Böse nichts mehr wüßte, nur daß vielleicht irgendein Schiffer-Heimweh, irgendwelche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. –


256

[723] Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europas gelegt hat und noch legt, dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hilfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, notwendig nur Zwischenakts-Politik sein kann – dank alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, daß Europa eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesamt-Richtung in der geheimnisvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den »Vaterländern« – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie »Patrioten« wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer; man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen Mißverständnisse verführen lassen darf – Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich gegen Richard Wagner sperrt und wehrt – die Tatsache bleibt nichtsdestoweniger bestehn, daß die französische Spät-Romantik der vierziger Jahre und Richard Wagner auf das engste und innigste zueinandergehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus-, hinaufdrängt und -sehnt – wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wußten? Gewiß ist, daß der gleiche Sturm und Drang sie quälte, daß sie auf gleiche Weise suchten, diese letzten großen Suchenden! Allesamt beherrscht von der Literatur bis in ihre Augen und Ohren – die ersten Künstler von weltliterarischer Bildung –, meistens sogar selber Schreibende,[724] Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler); allesamt Fanatiker des Ausdrucks »um jeden Preis« – ich hebe Delacroix hervor, den Nächstverwandten Wagners –, allesamt große Entdecker im Reiche des Erhabenen, auch des Häßlichen und Gräßlichen, noch größere Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden, allesamt Talente weit über ihr Genie hinaus –, Virtuosen durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden; als Menschen Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen Tempo, eines lento unfähig wußten – man denke zum Beispiel an Balzac –, zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuß; allesamt zuletzt an dem christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug und Recht: denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des Antichrist gewesen?) – im ganzen eine verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hochemporreißende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert – und es ist das Jahrhundert der Menge! – den Begriff »höherer Mensch« erst zu lehren hatte... Mögen die deutschen Freunde Richard Wagners darüber mit sich zu Rate gehn, ob es in der Wagnerschen Kunst etwas schlechthin Deutsches gibt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die Tiefe seiner Instinkte verlangen hieß, und wie die ganze Art seines Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst angesichts des französischen Sozialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard Wagners finden, daß er es in allem stärker, verwegener, härter, höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts treiben könnte –[725] dank dem Umstande, daß wir Deutschen der Barbarei noch näherstehen als die Franzosen –; vielleicht ist sogar das Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der Tat bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemut, zu gesund, zu antikatholisch für den Geschmack alter und mürber Kulturvölker sein mag. Er mag sogar eine Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner hat diese Sünde reichlich quittgemacht, in seinen alten trüben Tagen, als er – einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik geworden ist – mit der ihm eignen religiösen Vehemenz den Weg nach Rom, wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfing. – Damit man mich, mit diesen letzten Worten, nicht mißverstehe, will ich einige kräftige Reime zu Hilfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es verraten werden, was ich will – was ich gegen den »letzten Wagner« und seine Parsifal-Musik will:


– Ist das noch deutsch? –

Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen?

Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst- Entfleischen?

Deutsch ist dies Priester-Händespreizen,

Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen?

Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln,

Dies ungewisse Bimbambaumeln?

Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln,

Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln?

– Ist das noch deutsch? –

Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte: –

Denn, was ihr hört, ist Rom – Roms Glaube ohne Worte![726]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 716-727.
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