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[621] Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister –, als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesamt-Entwicklung des Menschen hat: dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Zustände bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das heißt immer ebensowohl der zerstörende als der schöpferische und gestaltende Einfluß, welcher mit Hilfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach der Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein vielfacher und verschiedner. Für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können: als ein Band, das Herrscher und Untertanen gemeinsam bindet und die Gewissen der letzteren, ihr Verborgnes und Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehn möchte, den ersteren verrät und überantwortet; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen Herkunft, durch hohe Geistigkeit, einem abgezogneren und beschaulicheren Leben sich zuneigen und nur die feinste Artung des Herrschens (über ausgesuchte Jünger oder Ordensbrüder) sich vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich Ruhe vor dem Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und Reinheit vor dem notwendigen Schmutz alles Politik-Machens zu schaffen. So verstanden es zum Beispiel die Brahmanen: mit Hilfe einer religiösen Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu[621] ernennen, während sie sich selber abseits und außerhalb hielten und fühlten, als die Menschen höherer und überköniglicher Aufgaben. Inzwischen gibt die Religion auch einem Teile der Beherrschten Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen ist – ihnen bietet die Religion Anstöße und Versuchungen genug, die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehn, die Gefühle der großen Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben – Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Veredlungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet. Den gewöhnlichen Menschen endlich, den allermeisten, welche zum Dienen und zum allgemeinen Nutzen da sind und nur insofern dasein dürfen, gibt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredlung des Gehorsams, ein Glück und Leid mehr mit ihresgleichen und etwas von Verklärung und Verschönerung, etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbtier-Armut ihrer Seele. Religion und religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche immer geplagte Menschen und macht ihnen selbst den eignen Anblick erträglich, sie wirkt, wie eine epikurische Philosophie auf Leidende höheren Ranges zu wirken pflegt, erquickend, verfeinernd, das Leiden gleichsam ausnützend, zuletzt gar heiligend und rechtfertigend. Vielleicht ist am Christentum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben – und gerade diese Härte tut not! – bei sich festzuhalten.


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Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit ans Licht zu stellen – es bezahlt sich immer teuer und fürchterlich, wenn Religionen [622] nicht als Züchtungs- und Erziehungsmittel in der Hand des Philosophen, sondern von sich aus und souverän walten, wenn sie selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben andern Mitteln sein wollen. Es gibt bei dem Menschen wie bei jeder andern Tierart einen Überschuß von Mißratnen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, notwendig Leidenden; die gelungnen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, daß der Mensch das noch nicht festgestellte Tier ist, die spärliche Ausnahme. Aber noch schlimmer: je höher geartet der Typus eines Menschen ist, der durch ihn dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit, daß er gerät: das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesamten Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen, deren Lebensbedingungen fein, vielfach und schwer auszurechnen sind. Wie verhalten sich nun die genannten beiden größten Religionen zu diesem Überschuß der mißlungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten läßt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben allen denen recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durchsetzen, daß jede andre Empfindung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen andern auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesamt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlich souveränen Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus »Mensch« auf einer niedrigeren Stufe festhielten – sie erhielten zu viel von dem, was zugrunde gehn sollte. Man hat ihnen Unschätzbares zu danken; und wer ist reich genug an Dankbarkeit, um nicht vor alledem arm zu werden, was zum Beispiel die »geistlichen Menschen« des Christentums bisher für Europa getan haben! Und doch, wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden Mut, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordnen von der Gesellschaft weg in Klöster und seelische Zuchthäuser lockten: was mußten sie außerdem tun, um mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken und Leidenden, das heißt in Tat und Wahrheit an der Verschlechterung[623] der europäischen Rasse zu arbeiten? Alle Wertschätzungen auf den Kopf stellen – das mußten sie! Und die Starken zerbrechen, die großen Hoffnungen ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgeratensten Typus »Mensch« zu eigen sind, in Unsicherheit, Gewissens-Not, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Haß gegen die Erde und das Irdische verkehren – das stellte sich die Kirche zur Aufgabe und mußte es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich »Entweltlichung«, »Entsinnlichung« und »höherer Mensch« in ein Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, daß man mit dem spöttischen und unbeteiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen Christentums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein Ende mehr, zu staunen und zu lachen: scheint es denn nicht, daß ein Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem Menschen eine sublime Mißgeburt zu machen? Wer aber mit umgekehrten Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgendeinem göttlichen Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung und Verkümmerung des Menschen zuträte, wie sie der christliche Europäer ist (Pascal zum Beispiel), müßte er da nicht mit Grimm, mit Mitleid, mit Entsetzen schreien: »O ihr Tölpel, ihr anmaßenden mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht! War das eine Arbeit für eure Hände! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen und verhunzt! Was nahmt ihr euch heraus!« – Ich wollte sagen: das Christentum war bisher die verhängnisvollste Art von Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um am Menschen als Künstler gestalten zu dürfen; Menschen, nicht stark und fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Mißratens und Zugrundegehns walten zu lassen; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich verschiedne Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehn – solche Menschen haben, mit ihrem »Gleich vor Gott«, bisher über dem Schicksal Europas gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Herdentier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges herangezüchtet ist, der heutige Europäer...[624]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 621-625.
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