271

[745] Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille füreinander: zuletzt bleibt es dabei – sie »können sich nicht riechen!« Der höchste Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist Heiligkeit – die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgendein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgendeine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der »Trübsal«, ins Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt –: ebensosehr als ein solcher Hang auszeichnet – es ist ein vornehmer Hang –, trennt er auch. – Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es gibt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird...


272

Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu Pflichten für jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht teilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen.


273

Ein Mensch, der nach Großem strebt, betrachtet jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmnis – oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigentümliche hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewußtsein,[745] bis dahin immer zur Komödie verurteilt zu sein – denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt –, verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat.


274

Das Problem der Wartenden. – Es sind Glücksfälle dazu nötig und vielerlei Unberechenbares, daß ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt – »zum Ausbruch«, wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht, und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, inwiefern sie warten, noch weniger aber, daß sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die »Erlaubnis« zum Handeln gibt – dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie mancher fand, eben als er »aufsprang«, mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! »Es ist zu spät« – sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz. – Sollte, im Reiche des Genies, der »Raffael ohne Hände«, das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein? – Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nötig hat, um den kairos, »die rechte Zeit« – zu tyrannisieren, um den Zufall am Schopf zu fassen!


275

Wer das Hohe eines Menschen nicht sehn will, blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist – und verrät sich selbst damit.


276

Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen größer sein, ihre Wahrscheinlichkeit, daß sie verunglückt und zugrunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen,[746] ungeheuer. – Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verlorenging: nicht so beim Menschen. –


277

– Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus fertiggebaut hat, merkt man, unversehens etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen – anfing. Das ewige leidige »Zu spät!« – Die Melancholie alles Fertigen!...


278

– Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe, mit unerratbaren Augen; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder ans Licht gekommen – was suchte es da unten? – mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift: wer bist du? was tatest du? Ruhe dich hier aus: diese Stelle ist gastfreundlich für jedermann – erhole dich! Und wer du auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung? Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! – »Zur Erholung? Zur Erholung? O du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gib mir, ich bitte – –« Was? Was? sprich es aus! – »Eine Maske mehr! Eine zweite Maske!«...


279

Die Menschen der tiefen Traurigkeit verraten sich, wenn sie glücklich sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht – ach, sie wissen zu gut, daß es ihnen davonläuft!


280

»Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht – zurück?« – Ja! Aber ihr versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie jeder, der einen großen Sprung tun will. – –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 745-747.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Jenseits von Gut und Böse
Jenseits von Gut und Böse: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft
Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Jenseits von Gut und Böse: Mit der Streitschrift 'Zur Genealogie der Moral' (insel taschenbuch)
Jenseits von Gut und Böse
Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral