291

[752] Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Tier, den anderen Tieren weniger durch Kraft als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als einfach zu genießen; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuß im Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört vielleicht viel mehr in den Begriff »Kunst« hinein, als man gemeinhin glaubt.


292

Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig außerordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eignen Gedanken wie von außen her, wie von oben und unten her, als von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht; ein verhängnisvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph: ach, ein Wesen, das oft von sich davonläuft, oft vor sich Furcht hat – aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder »zu sich zu kommen«...


293

[752] Ein Mann, der sagt: »das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen und gegen jedermann verteidigen«; ein Mann, der eine Sache führen, einen Entschluß durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten auch die Tiere gern zufallen und von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist – wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Wert! Aber was liegt am Mitleiden derer, welche leiden! Oder derer, welche gar Mitleiden predigen! Es gibt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte – es gibt einen förmlichen Kultus des Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen »Mitleid« getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die Augen. – Man muß diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig und gründlich in den Bann tun; und ich wünsche endlich, daß man das gute Amulett »gai saber« sich dagegen um Herz und Hals lege – »fröhliche Wissenschaft«, um es den Deutschen zu verdeutlichen.


294

Das olympische Laster. – Jenem Philosophen zum Trotz, der als echter Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu schaffen suchte – »das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird« (Hobbes) – würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens – bis hinauf zu denen, die des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, daß auch Götter philosophieren, wozu mich mancher Schluß schon gedrängt hat –, so zweifle ich nicht, daß sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen – und auf Unkosten aller ernsten[753] Dinge! Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen.


295

Das Genie des Herzens, wie es jener große Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiß, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, daß er zu scheinen versteht – und nicht das, was er ist, sondern was denen, die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen – das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten gibt – stillzuliegen wie ein Spiegel, daß sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele –; das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süßer Geistigkeit unter trübem dickem Eise errät und eine Wünschelrute für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens, von dessen Berührung jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Tauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens... aber was tue ich, meine Freunde? Von wem rede ich zu euch? Vergaß ich mich so weit, daß ich euch nicht einmal seinen Namen nannte? Es sei denn, daß ihr nicht schon von selbst errietet, wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher Weise gelobt sein will. Wie es nämlich einem jeden ergeht, der von Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg gelaufen, vor allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser immer[754] wieder, kein Geringerer nämlich als der Gott Dionysos, jener große Zweideutige und Versucher-Gott, dem ich einstmals, wie ihr wißt, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe – als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein Opfer dargebracht hat: denn ich fand keinen, der es verstanden hätte, was ich damals tat. Inzwischen lernte ich vieles, allzuvieles über die Philosophie dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund – ich, der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos: und ich dürfte wohl endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein wenig, soweit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben? Mit halber Stimme, wie billig: denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches. Schon daß Dionysos ein Philosoph ist, und daß also auch Götter philosophieren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Mißtrauen erregen möchte – unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, es sei denn, daß sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt: denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verraten hat, an Gott und Götter. Vielleicht auch, daß ich in der Freimütigkeit meiner Erzählung weitergehn muß, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist? Gewißlich ging der genannte Gott bei dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele Schritte mir voraus... Ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Mute, von seiner gewagten Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiß ein solcher Gott nichts anzufangen. »Behalte dies«, würde er sagen, »für dich und deinesgleichen und wer sonst es nötig hat! Ich – habe keinen Grund, meine Blöße zu decken!« – Man errät: es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham? – So sagte er einmal: »unter Umständen liebe ich den Menschen« – und dabei spielte er auf Ariadne an, die zugegen war –: »der Mensch ist mir ein angenehmes, tapferes, erfinderisches Tier, das auf Erden nicht seinesgleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser[755] und tiefer mache, als er ist.« – »Stärker, böser und tiefer?« fragte ich erschreckt. »Ja«, sagte er noch einmal, »stärker, böser und tiefer; auch schöner« – und dazu lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham –; und es gibt überhaupt gute Gründe dafür, zu mutmaßen, daß in einigen Stücken die Götter insgesamt bei uns Menschen in die Schule gehen könnten. Wir Menschen sind – menschlicher...


296

Ach, was seid ihr doch, ihre meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen, daß ihr mich niesen und lachen machtet – und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden: so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so langweilig! Und war es jemals anders? Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel, die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen – mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Rots: – aber niemand errät mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten – – schlimmen Gedanken![756]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 752-757.
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