204

[663] Auf die Gefahr hin, daß Moralisieren sich auch hier als das herausstellt, was es immer war – nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach Balzac –, möchte ich wagen, einer ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muß von seiner Erfahrung aus – Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme Erfahrung? – ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen und Künstler gegen die Wissenschaft zu reden (»ach, diese schlimme Wissenschaft!« seufzt deren Instinkt und Scham, »sie kommt immer dahinter!« – ). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen Menschen, seine Emanzipation von der Philosophie, ist eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute überall in voller Blüte und in ihrem besten Frühlinge – womit noch nicht gesagt sein soll, daß in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. »Los von allen Herren!« – so will es auch hier der pöbelmännische Instinkt; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren »Magd« sie zu lange war, ist sie nun in vollem Übermute und Unverstande daraufhin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den »Herrn« – was sage ich! den Philosophen zu spielen. Mein Gedächtnis – das Gedächtnis eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub! – strotzt von Naivitäten des Hochmuts, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und Schulmännern, welche beides von Berufs wegen sind –). Bald war es der Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle synthetischen Aufgaben und[663] Fähigkeiten zur Wehr setzte; bald der fleißige Arbeiter, der einen Geruch vom otium und der vornehmen Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen, der in der Philosophie nichts sieht als eine Reihe widerlegter Systeme und einen verschwenderischen Aufwand, der niemandem »zugute kommt«. Bald sprang die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens hervor; bald die Mißachtung einzelner Philosophen, welche sich unwillkürlich zur Mißachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der hochmütigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung eines Philosophen selbst, dem man zwar im ganzen den Gehorsam gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden Wertschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein – mit dem Ergebnis einer Gesamt-Verstimmung gegen alle Philosophie. (Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauers auf das neueste Deutschland zu sein – er hat es mit seiner unintelligenten Wut auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Kultur herauszubrechen, welche Kultur, alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt, ins große gerechnet, mag es vor allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch getan und dem pöbelmännischen Instinkte die Tore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheißen haben, abgeht; und mit wie gutem Rechte angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute, dank der Mode, ebenso obenauf als unten-durch sind – in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard v. Hartmann – ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf. Es ist insonderheit der Anblick[664] jener Mischmasch-Philosophen, die sich »Wirklichkeits-Philosophen« oder »Positivisten« nennen, welcher ein gefährliches Mißtrauen in die Seele eines jungen ehrgeizigen Gelehrten zu werfen imstande ist: das sind ja bestenfalls selbst Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen! – das sind ja allesamt Überwundene und unter die Botmäßigkeit der Wissenschaft Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr von sich gewollt haben, ohne ein Recht zu diesem »mehr« und seiner Verantwortlichkeit zu haben – und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Unglauben an die Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und Tat repräsentieren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im Gesichte, während das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Mißtrauen und Mißmut, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht. Philosophie auf »Erkenntnistheorie« reduziert, tatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinwegkommt und sich peinlich das Recht zum Eintritt verweigert – das ist Philosophie in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, etwas, das Mitleiden macht. Wie könnte eine solche Philosophie – herrschen!


205

Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in Wahrheit so vielfach, daß man zweifeln möchte, ob diese Frucht überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Turmbau der Wissenschaften ist ins Ungeheure gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, daß der Philosoph schon als Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und »spezialisieren« läßt: so daß er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, Niederblick kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann wenn seine beste Zeit und Kraft schon vorüber ist; oder beschädigt vergröbert, entartet, so daß sein Blick, sein Gesamt-Werturteil wenig mehr bedeutet. Gerade die Feinheit seines intellektuellen Gewissens läßt ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern; er fürchtet die Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuß und Tausend-Fühlhorn,[665] er weiß es zu gut, daß einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr führt: er müßte denn schon zum großen Schauspieler werden wollen, zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks: wenn es selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, daß er von sich ein Urteil, ein Ja oder Nein nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Wert des Lebens verlangt – daß er ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem Urteile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten – vielleicht störendsten, zerstörendsten – Erlebnissen heraus und oft zögernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben suchen muß. In der Tat, die Menge hat den Philosophen lange Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen entsinnlichten »entweltlichten« Schwärmer und Trunkenbold Gottes; und hört man gar heute jemanden loben dafür, daß er »weise« lebe oder »als ein Philosoph«, so bedeutet es beinahe nicht mehr als »klug und abseits«. Weisheit: das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein, ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn; aber der rechte Philosoph – so scheint es uns, meine Freunde? – lebt »unphilosophisch« und »unweise«, vor allem unklug, und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens – er riskiert sich beständig, er spielt das schlimme Spiel...


206

Im Verhältnisse zu einem Genie, das heißt zu einem Wesen, welches entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen –, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei wertvollsten Verrichtungen des Menschen. In der Tat, man gesteht ihnen beiden, den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die Achtbarkeit zu – man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit – und hat noch an dem[666] Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz von Verdruß. Sehen wir genauer zu: was ist der wissenschaftliche Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer unvornehmen, das heißt nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmäßigkeit und Maß im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für seinesgleichen und für das, was seinesgleichen nötig hat, zum Beispiel jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der Arbeit gibt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt –), jenen Sonnenschein des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Wertes und seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche Mißtrauen, der Grund im Herzen aller abhängigen Menschen und Herdentiere, immer wieder überwunden werden muß. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist reich am kleinen Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie einer, der sich gehen, aber nicht strömen läßt; und gerade vor dem Menschen des großen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmäßigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmäßigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber! – abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand natürlich –, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. –


207

Wie dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen mag – und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen! – zuletzt[667] muß man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und der Übertreibung Einhalt tun, mit der die Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat, dem »interesselosen Erkennen« ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich dem Pessimisten, der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Mißraten einmal zum Auf- und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge, die es gibt: aber er gehört in die Hand eins Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel – er ist kein »Selbstzweck«. Der objektive Mensch ist in der Tat ein Spiegel: vor allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine andre Lust, als wie sie das Erkennen, das »Abspiegeln« gibt – er wartet, bis etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, daß auch leichte Fußtapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verlorengehn. Was von »Person« an ihm noch übrig ist dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter störend: so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Widerschein fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf »sich« zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch; er verwechselt sich leicht, er vergreift sich in bezug auf die eignen Notdürfte und ist hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der Mangel an Gesellen und Gesellschaft – ja, er zwingt sich, über seine Qual nachzudenken: umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum allgemeineren Falle, und morgen weiß er so wenig, als er es gestern wußte, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren, auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an Not, sondern aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Not. Das gewohnte Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebnis, die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er alles annimmt, was auf ihn stößt, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es gibt genug Fälle, wo er diese seine Tugenden büßen muß! – und als Mensch überhaupt wird er gar zu leicht das caput mortuum dieser Tugenden[668] Will man Liebe und Haß von ihm, ich meine Liebe und Haß, wie Gott, Weib und Tier sie verstehn –: er wird tun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist – wenn er da gerade sich unecht, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist gewollt, sein Haß künstlich und mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur echt, soweit er objektiv sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch »Natur« und »natürlich«. Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiß nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht, er zerstört auch nicht. »Je ne méprise presque rien« – sagt er mit Leibniz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch kein Mustermensch; er geht niemandem voran, noch nach; er stellt sich überhaupt zu ferne, als daß er Grund hätte, zwischen Gut und Böse Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Kultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen – er ist ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiß auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber nichts – presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Meß-Werkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein komplementärer Mensch, in dem das übrige Dasein sich rechtfertigt, kein Schluß – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgendeinen Inhalt und Gehalt erst warten muß, um sich nach ihm »zu gestalten« – für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein »selbstloser« Mensch. Folglich auch nichts für Weiber, in parenthesi. –


208

Wenn heute ein Philosoph zu verstehen gibt, er sei kein Skeptiker – ich hoffe, man hat das aus der eben gegebenen Abschilderung des objektiven Geistes herausgehört? – so hört alle Welt das ungern; man sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so vieles fragen,[669] fragen... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge gibt, heißt er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, bei seiner Ablehnung der Skepsis, von ferne her irgendein böses bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloß Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken! Nein tut. Gegen diese Art von »gutem Willen« – einem Willen zur wirklichen tätlichen Verneinung des Lebens – gibt es anerkanntermaßen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel als Skepsis, den sanften holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den Ärzten der Zeit gegen den »Geist« und sein Rumoren unter dem Boden verordnet. »Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen?« sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von Sicherheits-Polizei: »dies unterirdische Nein ist fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!« Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biß zu spüren. Ja! und Nein! – das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht: »was weiß ich?« Oder mit Sokrates: »ich weiß, daß ich nichts weiß.« Oder: »hier traue ich mir nicht, hier steht mir keine Tür offen.« Oder: »gesetzt sie stünde offen, wozu gleich eintreten?« Oder: »wozu nützen alle vorschnellen Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören. Müßt ihr denn durchaus etwas Krummes gleich geradebiegen? Durchaus jedes Loch mit irgendwelchem Werge ausstopfen? Hat das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? O ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin.« – Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, daß er einigen Trost nötig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht jedesmal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang[670] voneinander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedne Maße und Werte ins Blut vererbt bekommt, ist alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille: sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfre Lustgefühl im Wollen gar nicht mehr – sie zweifeln an der »Freiheit des Willens« auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und folglich Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladne Wolke – und seines Willens oft bis zum Sterben satt! Willenslähmung: wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und oft noch wie geputzt! Wie verführerisch herausgeputzt! Es gibt die schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit; und daß zum Beispiel das meiste von dem, was sich heute als »Objektivität«, »Wissenschaftlichkeit«, »l'art pour l'art«, »reines willensfreies Erkennen« in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung ist – für diese Diagnose der europäischen Krankheit will ich einstehn. – Die Krankheit des Willens ist ungleichmäßig über Europa verbreitet: sie zeigt sich dort am größten und vielfältigsten, wo die Kultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet in dem Maße, als »der Barbar« noch – oder wieder – unter dem schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht erschließen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnisvollen Wendungen seines Geistes ins Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der Skepsis sein Kultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen, und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker[671] als in der deutschen Mitte; erheblich stärker in England, Spanien und Korsika, dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden – um nicht von Italien zu reden, welches zu jung ist, als daß es schon wüßte, was es wollte, und das erst beweisen muß, ob es wollen kann –, aber am allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche, wo Europa gleichsam nach Asien zurückfließt, in Rußland. Da ist die Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet der Wille – ungewiß, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung – in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern von heute ihr Leibwort abzuborgen. Es dürften nicht nur indische Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nötig sein, damit Europa von seiner größten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor allem die Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen. Ich sage dies nicht als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen sein – ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Rußlands, daß Europa sich entschließen müßte, gleichermaßen bedrohlich zu werden, nämlich einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste, einen langen, furchtbaren eignen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte – damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluß käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd- Herrschaft – den Zwang zur großen Politik.


209

Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer andern und stärkern Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte ich mich vorläufig nur durch ein Gleichnis ausdrücken, welches die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehn werden. Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne großgewachsene Grenadiere, welcher, als König von Preußen, einem militärischen und skeptischen[672] Genie – und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich heraufgekommnen Typus des Deutschen – das Dasein gab, der fragwürdige tolle Vater Friedrichs des Großen, hatte in einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle des Genies: er wußte, woran es damals in Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundertmal ängstlicher und dringender war als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher Form – sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem bittersten Verdrusse, daß sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüßlichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen – er sah im Hintergrunde die große Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor – wer weiß, wie sehr gerade durch den Haß des Vaters und durch die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? – die Skepsis der verwegnen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächstverwandt ist und in der Gestalt des großen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reißt trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie gibt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und ins Geistigste gesteigerter Friderizianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmäßigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Mißtrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der großen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesamt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen[673] Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem »Mann« im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem »dogmatischen Schlummer« geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden mußte – und wie es noch nicht zu lange her ist, daß ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaßung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Teilnahme Europas zu empfehlen. Man verstehe doch endlich das Erstaunen Napoleons tief genug, als er Goethe zu sehen bekam: es verrät, was man sich jahrhundertelang unter dem »deutschen Geiste« gedacht hatte. »Voilá un homme!« – das wollte sagen: »das ist ja ein Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet!« –


210

Gesetzt also, daß im Bilde der Philosophen der Zukunft irgendein Zug zu raten gibt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten Sinne, Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet – und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen, vielleicht weitern, vielleicht gefährlichern Sinne zu bedienen lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntnis, mit verwegnen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der weichmütige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen Jahrhunderts gutheißen kann? – Es ist kein Zweifel: diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entraten dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit[674] der Wertmaße, die bewußte Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Mut, das Alleinstehn und Sich-verantworten-können; ja, sie gestehn bei sich eine Lust am Nein-sagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiß, auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen mögen, sie werden sich nicht mit der »Wahrheit« einlassen, damit sie ihnen »gefalle« oder sie »erhebe« und »begeistere« – ihr Glaube wird vielmehr gering sein, daß gerade die Wahrheit solche Lustbarkeiten für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen Geister, wenn einer vor ihnen sagte: »jener Gedanke erhebt mich: wie sollte er nicht wahr sein?« Oder: »jenes Werk entzückt mich: wie sollte es nicht schön sein?« Oder: »jener Künstler vergrößert mich: wie sollte er nicht groß sein?« – sie haben vielleicht nicht nur ein Lächeln, sondern einen echten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen, Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüßte, würde schwerlich dort die Absicht vorfinden, »christliche Gefühle« mit dem »antiken Geschmacke« und etwa gar noch mit dem »modernen Parlamentarismus« zu versöhnen (wie der gleichen Versöhnlichkeit in unserm sehr unsichern, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und jede Gewöhnung, welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt, werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen: sie dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen – trotzdem wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heißen. Es scheint ihnen keine kleine Schmach, die der Philosophie angetan wird, wenn man dekretiert, wie es heute so gern geschieht: »Philosophie selbst ist Kritik und kritische Wissenschaft – und gar nichts außerdem!« Mag diese Wertschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten Frankreichs und Deutschlands erfreuen (– und es wäre möglich, daß sie sogar dem Herzen und Geschmacke Kants geschmeichelt hätte: man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke –): unsre neuen Philosophen werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch der große Chinese von Königsberg war nur ein großer Kritiker. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 663-675.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Jenseits von Gut und Böse
Jenseits von Gut und Böse: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft
Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Jenseits von Gut und Böse: Mit der Streitschrift 'Zur Genealogie der Moral' (insel taschenbuch)
Jenseits von Gut und Böse
Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon