214

[681] Unsere Tugenden? – Es ist wahrscheinlich, daß auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsre Großväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüßten Grausamkeit in Geist und Sinnen, – wir werden vermutlich, wenn wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsren heißesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen! – woselbst sich, wie man weiß, so mancherlei verliert, so mancherlei ganz verlorengeht. Und gibt es etwas Schöneres, als nach seinen eignen Tugenden suchen? Heißt dies nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben? Dies aber »an seine Tugend glauben« – ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man ehedem sein »gutes Gewissen« nannte, jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsre Großväter hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint demnach, wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und großväterhaft-ehrbar dünken mögen, in einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Großväter, wir letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. – Ach! Wenn ihr wüßtet, wie es bald, so bald schon – anders kommt!...


215

Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedner Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rotem Lichte, bald mit grünem Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn[681] treffend und bunt überflutend: so sind wir modernen Menschen, dank der komplizierten Mechanik unsres »Sternenhimmels« – durch verschiedne Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in verschiednen Farben, sie sind selten eindeutig – und es gibt genug Fälle, wo wir bunte Handlungen tun.


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Seine Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es geschieht heute tausendfältig, im kleinen und im großen; ja es geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere – wir lernen verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben – aber alles dies unbewußt, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche Wort und die Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde – geht uns heute wider den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt unsrer Väter war, daß ihnen endlich Religion als Attitüde wider den Geschmack ging, eingerechnet die Feindschaft und Voltairesche Bitterkeit gegen die Religion (und was alles ehemals zur Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei, alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will.


217

Sich vor denen in acht nehmen, welche einen hohen Wert darauf legen, daß man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben – sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn sie noch unsre »Freunde« bleiben. – Selig sind die Vergeßlichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten »fertig«.


218

Die Psychologen Frankreichs – und wo gibt es heute sonst noch Psychologen? – haben immer noch ihr bittres und vielfältiges Vergnügen[682] an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn... genug, sie verraten etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts andres mehr – es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung – denn es wird langweilig –, ein andres Ding zum Entzücken: das ist die unbewußte Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaßes zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausendmal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in seinen besten Augenblicken – sogar auch als der Verstand seiner Opfer –: zum abermaligen Beweise dafür, daß der »Instinkt« unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die intelligenteste ist. Kurz, studiert, ihr Psychologen, die Philosophie der »Regel« im Kampfe mit der »Ausnahme«: da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch deutlicher: treibt Vivisektion am »guten Menschen«, am »homo bonae voluntatis«.... an euch!


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Das moralische Urteilen und Verurteilen ist die Lieblings-Rache der Geistig-Beschränkten an denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, daß sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden – Bosheit vergeistigt. Es tut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, daß es einen Maßstab gibt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten des Geistes Überhäuften ihnen gleichstehn – sie kämpfen für die »Gleichheit aller vor Gott« und brauchen beinahe dazu schon den Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des Atheismus. Wer ihnen sagte »eine hohe Geistigkeit ist außer Vergleich mit irgendwelcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen Menschen« würde sie rasend machen – ich werde mich hüten, es zu tun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, daß eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer Qualitäten besteht; daß sie eine Synthesis aller jener Zustände ist, welche den »nur moralischen« Menschen nachgesagt werden, nachdem sie, einzeln,[683] durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten von Geschlechtern erworben sind; daß die hohe Geistigkeit eben die Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich beauftragt weiß, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrechtzuerhalten, unter den Dingen selbst – und nicht nur unter Menschen.


220

Bei dem jetzt so volkstümlichen Lobe des »Uninteressierten« muß man sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewußtsein bringen, woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht alles trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Tatsache kommt dabei heraus, daß das allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker, was jede höhere Natur interessiert und reizt, dem durchschnittlichen Menschen gänzlich »uninteressant« scheint – bemerkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie »désintéressé« und wundert sich, wie es möglich ist, »uninteressiert« zu handeln. Es hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wußten (– vielleicht weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) – statt die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, daß die »uninteressierte« Handlung eine sehr interessante und interessierte Handlung ist, vorausgesetzt... »Und die Liebe?« – Wie! Sogar eine Handlung aus Liebe soll »unegoistisch« sein? Aber ihr Tölpel –! »Und das Lob des Aufopfernden?« – Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, weiß, daß er etwas dafür wollte und bekam – vielleicht etwas von sich für etwas von sich – daß er hier hingab, um dort mehr zu haben, vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als »mehr« zu fühlen. Aber dies ist ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so sehr hat hier bereits die Wahrheit nötig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muß. Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt antun.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 681-684.
Lizenz:
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