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[675] Willkürliches Recht notwendig. – Die Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien als unverständlich und deshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfindung. Die Volksrechte, zum Beispiel die germanischen, waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Teil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfindungen. – Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur befohlen, Zwang sein; wir haben alle kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, deshalb müssen wir uns Willkürsrechte gefallen lassen, die der Ausdruck der Notwendigkeit sind, daß es ein Recht geben müsse. Das Logischste ist dann jedenfalls das Annehmbarste, weil es das Unparteilichste ist: zugegeben selbst, daß in jedem Falle die kleinste Maßeinheit im Verhältnis von Vergehen und Strafe willkürlich angesetzt ist.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 675.
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Menschliches, Allzumenschliches
TITLE: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.4, Bd.4, Nachbericht zur vierten Abteilung: Richard Wagner in Bayreuth; Menschliches, Allzumenschliches I-II; Nachgelassene Fragmente 1875-1879
Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow (insel taschenbuch)
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