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[1170] Wink für Moralisten. – Unsere Musiker haben eine große Entdeckung gemacht: die interessante Häßlichkeit ist auch in ihrer Kunst möglich! Und so werfen sie sich in diesen eröffneten Ozean des Häßlichen, wie trunken, und noch niemals war es so leicht, Musik zu machen. Jetzt hat man erst den allgemeinen dunkelfarbigen Hintergrund gewonnen, auf dem ein noch so kleiner Lichtstreifen schöner Musik den Glanz von Gold und Smaragd erhält; jetzt wagt man erst den Zuhörer in Sturm, Empörung und außer Atem zu bringen, um ihm nachher durch einen Augenblick des Hinsinkens in Ruhe ein Gefühl der Seligkeit zu geben, welches der Schätzung der Musik überhaupt zugute kommt. Man hat den Kontrast entdeckt: jetzt erst sind die stärksten Effekte möglich – und wohlfeil: niemand fragt mehr nach guter Musik. Aber ihr müßt euch beeilen! Es ist für jede Kunst nur eine kurze Spanne Zeit noch, wenn sie erst zu dieser Entdeckung gelangt[1170] ist. – Oh, wenn unsere Denker Ohren hätten, um in die Seelen unsrer Musiker, vermittelst ihrer Musik, hineinzuhören! Wie lange muß man warten, ehe solch eine Gelegenheit sich wiederfindet, den innerlichen Menschen auf der bösen Tat und in der Unschuld dieser Tat zu ertappen! Denn unsre Musiker haben nicht den leisesten Geruch davon, daß sie ihre eigene Geschichte, die Geschichte der Verhäßlichung der Seele, in Musik setzen. Ehemals mußte der gute Musiker beinahe um seiner Kunst willen ein guter Mensch werden –. Und jetzt!
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Morgenröte
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