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[1181] Die Feststimmung. – Gerade für jene Menschen, welche am hitzigsten nach Macht streben, ist es unbeschreiblich angenehm, sich überwältigt zu fühlen! Plötzlich und tief in ein Gefühl wie in einen Strudel hinabzusinken! Sich die Zügel aus der Hand reißen zu lassen und einer Bewegung wer weiß wohin? zuzusehen! Wer es ist, was es ist, das uns diesen Dienst leistet, – es ist ein großer Dienst: wir sind so glücklich und atemlos und fühlen eine Ausnahme-Stille um uns wie im mittelsten Grunde der Erde. Einmal ganz ohne Macht! Ein Spielball von Urkräften! Es ist eine Ausspannung in diesem Glück, ein Abwerfen der großen Last, ein Abwärtsrollen ohne Mühen wie in blinder Schwerkraft. Es ist der Traum des Bergsteigers, der sein Ziel zwar oben hat, aber unterwegs aus tiefer Müdigkeit einmal einschläft und vom Glück des Gegensatzes – eben vom mühelosesten Abwärtsrollen – träumt. – Ich beschreibe das Glück, wie ich es mir bei unserer jetzigen gehetzten, machtdürstigen Gesellschaft Europas und Amerikas denke. Hier und da wollen sie einmal in die Ohnmacht zurücktaumeln – diesen Genuß bieten ihnen Kriege, Künste, Religionen, Genies. Wenn man sich einem alles verschlingenden und zerdrückenden Eindruck einmal zeitweilig überlassen hat – es ist die moderne Feststimmung! – dann ist man wieder freier, erholter, kälter, strenger und strebt unermüdlich nach dem Gegenteile weiter: nach Macht. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1181.
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Morgenröte
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Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
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