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[1219] Für wen die Wahrheit da ist. – Bis jetzt sind die Irrtümer die trostreichen Mächte gewesen: nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten dieselbe Wirkung und wartet ein wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade dies – zu trösten – nicht zu leisten vermöchten? – Wäre dies denn ein Einwand gegen die Wahrheiten? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, daß sie gerade ihnen nützlich sein müßten? Es ist doch kein Beweis gegen die Wahrheit einer Pflanze, wenn festgestellt wird, daß sie zur Genesung kranker Menschen nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, daß man ohne weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntnis nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es könne, es dürfe gar keine anderen Dinge geben. – Vielleicht folgt aus alledem der Satz, daß die Wahrheit als Ganzes und Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur imstande sein werden, sie zu suchen: denn die anderen suchen Heilmittel für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellekt und dessen Freiheit denken, – sie suchen nicht die Wahrheit. Daher kommt es, daß diese anderen so wenig echte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen: es ist dies das Urteil der Kranken über die Spiele der Gesunden. – Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten; als endlich auch die griechischen Menschen allesamt krank wurden, war dies ein Grund zum Untergang solcher Götter.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1219-1220.
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